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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hier», sagte Rino.
    Als ich seine Zunge in meinem Ohr spürte, dachte ich nur noch: Weg. Nichts wie weg.
    Ich machte mich los, öffnete die Wohnungstür.
    Â«Wie –», sagte Rino, «ohne Verabschiedung?» Er stand schon wieder hinter mir, strich über meinen Nacken. «Darf ich dich noch um etwas bitten?» Er machte eine kurze Pause. «Kannstdu mir hundert Euro leihen? Du kriegst sie, sobald du zurück bist. Es ist nur so –»
    Â«Das will ich gar nicht wissen», sagte ich und gab ihm das Geld.
    Rino, meine
marchetta
! Ich mußte lachen. Hundert Euro ist nicht viel für einen ganzen Nachmittag ficken, dachte ich auf dem Weg zum Parkplatz.
    Als ich ins Auto steigen wollte, tippte jemand auf meine Schulter. Ich drehte mich um; es war Rino. «Du hast deine Jacke vergessen.» Er blieb stehen, wartete, bis ich den Motor gestartet hatte, klopfte im letzten Moment gegen die Fensterscheibe.
    Ich drückte auf den automatischen Fensterheber.
    Â«Ich mag dich sehr», sagte Rino und zupfte an seinem T-Shirt.
    Er blieb noch am Gehsteig stehen, als ich längst die Parklücke verlassen hatte.
    Â«Besuch deinen Onkel», rief ich ihm zu. Eine Weile sah ich ihn noch im Rückspiegel; er rührte sich nicht von der Stelle. Seine weißen Haare leuchteten.
    Ich dachte: Raus aus dieser Stadt. Dachte an das riesige Ziegelwerk der Aurelianischen Mauer, an die Kondominien und Hochhäuser der Vorstadtviertel, an die Borgate mit ihren heruntergekommenen Handwerkerbetrieben, Lagerhallen, Werkstätten. Rauf auf die Autobahn nach Norden.
    Und während ich über die holprigen römischen Straßen kroch, fiel mir wieder mein Onkel aus Vicenza ein, der mir erklärt hatte, daß Vögel einmal Lauftiere waren, die mit Sprüngen und Flattern versucht hätten, schneller zu werden. Alberto hatte ihm widersprochen. Ihm gefiel die Vorstellung, daß sie auf Klippen und Bäumen saßen und im Gleitflug, ohne Flügelschlag, von einer Thermikblase zur nächsten segelten, daßsie erst in diesem verzögerten Fallen, durch Zufall, das Fliegen erlernten.
    Am Himmel flogen wieder Stare; sie zogen langsam, gedrängt; der schwarze Haufen bewegte sich über den Gran Raccordo Anulare. Was ist, warum lösen sie sich nicht auf, dachte ich, warum formieren sie nicht neue Verbände? Die Anführer werden doch viel zu sehr beansprucht. Ich schaltete das Radio ein, suchte einen Sender, drückte die CD-Taste. Es steckte keine Disc im Schlitz. Immer wieder richtete ich meinen Blick auf den hellen Himmel. Ich wartete darauf, daß sich die dunkle Wolke lichtete, aber die Stare flogen weiterhin eng zusammengepfercht, als wäre dort oben zuwenig Raum.
    Ich beugte mich vor, langte nach dem Handschuhfach. Da war nur Papier, eine Zigarettenschachtel, etwas, das sich nach einem Taschentuch anfühlte. Wo hat Vittorio die CDs hingegeben. Ich bückte mich, suchte unter dem Beifahrersessel, tastete nach einer leeren Cola-Dose. Der Song
Every man has a man who loves him
fiel mir wieder ein. Ich richtete mich auf, schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Eine der Brandblasen platzte auf; ich bemerkte es erst, als ich mit derselben Hand über die Stirn strich.
    Ich sah auf die Straße, der Verkehr hatte etwas nachgelassen.
    Das Auto vibrierte, weil ein Lastwagen vorbeirollte. Wieder schaute ich in den Himmel.
    Ich muß noch Mutter anrufen. Sie weiß gar nicht, daß ich komme.
    Da – endlich scherten ein paar Vögel aus, ich erkannte die fernen Punkte. Meine Hand war noch immer unter dem Sessel, erwischte endlich eine Hülle, klappte sie auf – sie war leer. Immer mehr Stare flogen nun versetzt vor den anderen,bildeten nach und nach eine Linie. Jemand hupte. Ich erschrak, war zu weit links. Riß am Lenkrad. Ein Quietschen, ein Knall –

XXIV
    Aus den Querschnittbildern des Computertomographen konnte man in Sekundenschnelle farbige Modelle der inneren Organe generieren, man war sogar imstande, das Knochengewebe auszublenden und sich an bestimmte Gefäße heranzuzoomen. Irma stellte sich vor, wie sie sich mit der Körperkamera ihrem Transplantat näherte, wie sie seine Funktionsfähigkeit beobachtete; in Gedanken begann sie mit ihm zu sprechen, gab ihm verschiedene Namen, aber die paßten nicht, waren entweder zu lang oder zu kurz, zu fremd oder zu vertraut.
    In der Bibliothek saßen nur wenige Besucher. Zwei Afrikaner benützten das Internet,

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