Ueberflieger
groß, zaunlattendürr und hatte einen wuscheligen Haarschopf. Von seiner Abschlussklasse an der North Farmington High School vor den Toren Detroits war er zum »gelehrigsten Schüler« gewählt worden, was er selbst als »Streber ohne Freundin« übersetzt. Er dachte damals, er würde als Biologe oder Mathematiker enden. Doch gegen Ende seines ersten Studienjahrs stolperte er zufällig ins Computerzentrum – und war gefesselt.
|37| Von da an war das Computerzentrum sein Leben. Wann immer er konnte, schrieb er Programme. Joy bekam eine Stelle als Assistent eines Computerwissenschaftlers und konnte auch in den Sommerferien programmieren. Im Jahr 1975 schrieb er sich an der University of California in Berkeley ein, um zu promovieren. Dort vergrub er sich immer tiefer in die Programmierung. Während der mündlichen Abschlussprüfung erfand er spontan einen besonders komplizierten Algorithmus, der »die Prüfer derart verblüffte, dass einer von ihnen das Erlebnis später mit dem Auftritt des zwölfjährigen Jesus im Tempel verglich«, wie einer seiner vielen Bewunderer schrieb.
Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Programmierern übernahm Joy die Überarbeitung des Betriebssystems UNIX, das der Telefonkonzern AT&T für seine Mainframe-Computer entwickelt hatte. Seine Version war sehr gut. Sie war sogar so gut, dass sie bis heute das Betriebssystem für Millionen von Computern in aller Welt geblieben ist. »Wenn Sie Ihren Mac in diesen merkwürdigen Modus schalten, in dem Sie den Code sehen können, dann sehen Sie Zeilen, an die ich mich heute noch, nach 25 Jahren erinnere.« Und wissen Sie, wer einen großen Teil der Software geschrieben hat, mit der Sie heute durch das Internet navigieren? Bill Joy.
Nach seiner Promotion in Berkeley gründete Joy in Silicon Valley das Unternehmen Sun Microsystems, einen der entscheidenden Player der Computerrevolution. Dort überarbeitete er mit Java eine weitere Computersprache und wurde endgültig zur Legende. Insider in Silicon Valley sprechen seinen Namen mit derselben Ehrfurcht aus wie den von Microsoft-Gründer Bill Gates. Manche nennen ihn auch den Edison des Internet. Und IT-Philosoph David Gelernter von Yale beschreibt ihn als »einen der einflussreichsten Menschen der modernen Computergeschichte«.
Die Geschichte von Bill Joys Genialität wurde oft erzählt, und die Lektion ist immer dieselbe. In der Welt der Computer zählt nur die individuelle Leistung. Wer hier etwas werden will, dem helfen weder Seilschaften noch Geld. Es ist ein offenes Feld, hier wird |38| man nur nach Können und Leistung beurteilt. Nur die Besten setzten sich durch, und Joy war eindeutig einer der Allerbesten.
Wir würden diese Geschichte wahrscheinlich eher glauben, wenn wir uns nicht eben die Eishockeyspieler und Fußballer angesehen hätten. Auch die Welt des Sports ist ja angeblich eine, in der nur die eigene Leistung zählt. Aber das stimmt nicht. Wie wir gesehen haben, kommen die Überflieger durch eine Kombination aus Fähigkeiten, Möglichkeiten und zufälligen Vorteilen nach oben.
Wäre es denkbar, dass dieses Muster auch in der wirklichen Welt zu finden ist? Sehen wir uns die Geschichte von Bill Joy doch einmal genauer an.
2.
Seit mehr als einer Generation führen Psychologen in aller Welt eine leidenschaftliche Debatte über eine Frage, welche die meisten Menschen vermutlich für längst geklärt halten. Gibt es so etwas wie angeborenes Talent? Die meisten von uns würden diese Frage vermutlich mit Ja beantworten. Nicht jeder im Januar geborene Eishockeyspieler wird ein Profi. Das schaffen nur wenige, und zwar die mit dem angeborenen Talent. Leistung ist Talent plus Ausbildung. Nur: Je genauer sich Psychologen die Biografien der Begabten ansehen, umso unwichtiger wird das Talent und umso wichtiger die Ausbildung.
Erstes Beweisstück in der Talentdiskussion ist eine Untersuchung, die der Psychologe K. Anders Ericsson und seine deutschen Kollegen Ralf Krampe und Clemens Tesch-Römer Anfang der Neunzigerjahre an der Berliner Hochschule der Künste durchführten. Mit Unterstützung der Professoren teilten sie die Violinisten der Hochschule in drei Gruppen ein. In der ersten Gruppe waren die Stars, die das Zeug zu Weltklassesolisten hatten. In der zweiten Gruppe waren die »guten« Violinisten und in der dritten solche, die vermutlich nie als professionelle Konzertmusiker auftreten und stattdessen eher als Musiklehrer an die Schulen gehen |39| wollten. Sämtlichen Studierenden
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