Ueberflieger
stellten die Wissenschaftler dieselbe Frage: Wenn Sie Ihre gesamte Laufbahn zusammennehmen, beginnend mit dem Tag, an dem Sie das erste Mal eine Geige in die Hand genommen haben – wie viele Stunden haben Sie dann insgesamt etwa geübt?
Die Angehörigen aller drei Gruppen hatten mehr oder weniger im gleichen Alter begonnen, nämlich mit etwa fünf Jahren. Anfangs hatten alle mit rund zwei oder drei Stunden pro Woche etwa gleich viel geübt. Doch im Alter von acht Jahren ergaben sich die ersten erkennbaren Unterschiede. Die Studenten, die heute zur Gruppe der Besten gehörten, begannen intensiver zu üben als die anderen: im Alter von neun Jahren etwa sechs Stunden, im Alter von zwölf etwa acht, im Alter von 14 rund 16 Stunden pro Woche und so weiter, bis sie im Alter von 20 Jahren mehr als 30 Stunden pro Woche übten mit dem erklärten Ziel, ihr Spiel zu verbessern. Im Alter von 20 Jahren hatten diese Elitemusiker und -musikerinnen insgesamt rund 10 000 Stunden geübt. Im Gegensatz dazu kamen die »guten« Studierenden nur auf etwa 8 000 Stunden Spielpraxis und die künftigen Musiklehrer auf knapp über 4 000.
Daraufhin verglichen die Psychologen Amateur- und Profipianisten. Es ergab sich dasselbe Muster: Amateure übten in ihrer Kindheit nie öfter als dreimal pro Woche und hatten im Alter von 20 Jahren rund 2 000 Stunden Übungspraxis. Die Profis hatten dagegen Jahr für Jahr mehr geübt und kamen, genauso wie die Geiger, im Alter von 20 auf etwa 10 000 Stunden.
Das Erstaunliche an dieser Untersuchung ist, dass Ericsson und seine Kollegen nirgends auf »Naturtalente« stießen, die mühelos und mit einem Bruchteil der Übungsdauer in die Weltspitze vorgestoßen wären. Andererseits fanden sie aber auch keine »Rackerer«, die mehr geübt hätten als alle anderen, ohne jemals Weltklasseformat zu erreichen. Die Untersuchung lässt den Schluss zu, dass Musiker, die den Aufnahmeanforderungen eines renommierten Konservatoriums genügen, sich lediglich darin unterscheiden, wie viel sie arbeiten. Das ist alles. Und die Elitemusiker übten nicht |40| einfach nur mehr oder viel mehr als die übrigen. Sie übten
sehr
viel mehr.
Die Vorstellung, dass Höchstleistung bei der Ausführung einer anspruchsvollen Tätigkeit ein kritisches Minimum an Praxis erfordert, begegnet uns bei Untersuchungen des Expertentums immer und immer wieder. Dabei kamen Wissenschaftler auf eine magische Zahl, die wahres Expertentum ausmacht: 10 000 Stunden.
»Diese Untersuchungen zeigen, dass 10 000 Übungsstunden erforderlich sind, um sich dieses hohe Maß an Kompetenz zu erarbeiten, das man von Experten von Weltrang erwartet, und zwar auf jedem Gebiet«, schreibt der Neurologe Daniel Levitin. »Egal ob es sich um Komponisten, Basketballspieler, Romanautoren, Schlittschuhläufer, Konzertpianisten, Schachspieler oder Verbrechergenies handelt, sämtliche Untersuchungen kommen immer wieder auf diese Zahl. Das erklärt natürlich noch nicht, warum manche Menschen mehr von der Übung profitieren als andere. Doch bislang ist kein Fall bekannt, in dem Expertentum von Weltrang innerhalb kürzerer Zeit erworben wurde. Es scheint, als benötigte das Gehirn so lange, um all das zu assimilieren, was nötig ist, um eine Tätigkeit wirklich zu beherrschen.«
Das trifft übrigens auch auf Menschen zu, die wir für Wunderkinder halten. Mozart komponierte beispielsweise schon im Alter von sechs Jahren seine ersten Musikstücke. Doch wie der Psychologe Michael Howe in seinem Buch
Genius Explained
erklärt:
Am Maßstab eines reifen Komponisten gemessen sind Mozarts frühe Kompositionen alles andere als Meisterwerke. Die ersten Stücke wurden von seinem Vater niedergeschrieben, der sie vermutlich korrigierte und verbesserte. Viele der Kindheitskompositionen, beispielsweise seine Konzerte für Klavier und Orchester, sind überwiegend Neuarrangements der Werke anderer Komponisten. Als das erste Meisterwerk, das allein auf Mozart zurückgeht, gilt heute das Klavierkonzert Nr. 9 (KV 271), das Mozart jedoch erst im Alter von 21 Jahren schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mehr als zehn Jahre lang Konzerte komponiert.
|41| Der Musikkritiker Harold Schonberg geht sogar noch weiter und bezeichnet Mozart als einen »Spätentwickler«, da er seine größten Werke erst geschrieben habe, als er bereits 20 Jahre Kompositionspraxis hatte.
Auch ein Schachgroßmeister benötigt offenbar zehn Jahre Spielpraxis. (Nur der legendäre Bobby Fischer scheint weniger Zeit
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