Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ueberflieger

Titel: Ueberflieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
mit dem Kassettenrekorder in der einen Hand und dem Notizblock in der anderen in die Kirche, zum Fußballspiel und zum Arzt.
    Man würde erwarten, dass sich nach einer derart ausführlichen Untersuchung von zwölf verschiedenen Haushalten zwölf vollkommen unterschiedliche Erziehungsstile herauskristallisieren würden: strenge und nachsichtige Eltern, solche, die sich in alles einmischen, andere, die ihren Kinder viele Freiräume lassen, und so weiter. Lareau fand jedoch etwas ganz anderes heraus. Es gibt nur zwei »Erziehungsphilosophien«, die sich ganz eindeutig nach Klassenzugehörigkeit unterscheiden lassen. Eltern der Ober- und Mittelschicht erziehen nach der einen Methode, Eltern der Unterschicht nach der anderen.
    Eltern der Ober- und Mittelschicht sind bei der Freizeitgestaltung ihrer Kinder stark involviert, sie fahren sie von einem Termin zum nächsten und fragen sie nach Lehrern, Trainern und Mitschülern aus. Eines der Kinder aus den gut situierten Familien, die Lareau beobachtete, war in einer Baseballmannschaft, zwei Fußballteams, einem Schwimmclub und im Sommer in einer Basketballmannschaft, außerdem spielte es in einem Orchester und nahm Klavierunterricht.
    Die Kinder aus den Familien der Unterschicht kannten diese |94| intensive Terminplanung nicht. Für sie bedeutete Freizeitgestaltung etwas anderes als zweimal pro Woche zum Fußballtraining zu gehen. Sie spielten mit Geschwistern und Nachbarskindern im Freien und erfanden ihre eigenen Spiele. Für die Eltern waren die Aktivitäten ihrer Kinder etwas, das nichts mit der Erwachsenenwelt zu tun und keine besondere Bedeutung hatte. Katie Brindle, ein Mädchen aus einer Arbeiterfamilie, sang nach der Schule in einem Chor. Sie hatte sich allerdings selbst angemeldet und ging zu Fuß zu den Proben. Lareau schreibt:
    Anders als die Mütter der Mittelschicht, für die es eine Routine ist, nimmt Mrs. Brindle das Interesse ihrer Tochter am Gesang nicht zum Anlass, um nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie das Talent ihrer Tochter fördern kann. Sie spricht weder mit ihrer Tochter über deren Interesse am Theater noch bringt sie ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass sie das Talent ihrer Tochter nicht fördern kann. Stattdessen betrachtet sie Katies Fähigkeiten und Interessen als festen Bestandteil ihres Charakters – Singen und Schauspielern sind Dinge, die Katie ausmachen. Für sie sind Katies Theatereinlagen »süß« und etwas, das diese tut, um auf sich aufmerksam zu machen.
    Eltern der Mittelschicht besprechen Entscheidungen mit ihren Kindern und legen ihre Argumente dar. Sie befehlen nicht einfach. Im Gegenzug erwarten sie, dass ihre Kinder ihre eigenen Positionen vertreten, verhandeln und auch Erwachsene in Autoritätspositionen hinterfragen. Wenn die Kinder der Mittelschicht schlechte schulische Leistungen nach Hause bringen, stellen die Eltern die Lehrer infrage. Sie treten für ihre Kinder ein. Just während Lareau ihre Untersuchungen durchführte, verpasste eines der Mädchen den Sprung in ein Begabtenförderprogramm. Die Mutter sorgte dafür, dass das Mädchen eine Einzelprüfung erhielt, schrieb die Schule an und erreichte so, dass ihre Tochter schließlich doch noch in das Programm aufgenommen wurde. Eltern der Unterschicht lassen sich dagegen von Autoritäten einschüchtern. Sie sind ängstlich und halten sich im Hintergrund. Lareau schreibt über eine Mutter aus einer Arbeiterfamilie:
    |95| In einer Sprechstunde mit einer Lehrerin wirkt Mrs. McAllister (die einen High-School-Abschluss hat) kleinlaut. Ihre gesellige und offenherzige Art, die sie zu Hause zeigt, ist in dieser Situation vollkommen verschwunden. Zusammengekauert sitzt sie auf einem Stuhl und hat ihre Jacke bis oben hin zugeknöpft. Sie sagt wenig. Als die Lehrerin ihr mitteilt, ihr Sohn Harold habe seine Hausaufgaben nicht abgegeben, ist sie verwirrt, doch sie sagt nur: »Aber er hat sie zu Hause gemacht.« Sie geht dem aber nicht weiter nach und setzt sich auch nicht für Harold ein. Ihrer Ansicht nach liegt es allein in der Verantwortung der Lehrer, sich um die Bildung ihres Sohnes zu kümmern: Das ist deren Aufgabe, nicht ihre.
    Lareau beschreibt den Erziehungsstil der Eltern der Mittelschicht als »konzertierte Kultivierung« und den Versuch, »die Talente, Meinungen und Fähigkeiten des Kindes aktiv zu fördern und zu beurteilen«. Eltern der Unterschicht verfolgen dagegen eine Strategie des »natürlichen Wachstums«; sie sehen ihre Verantwortung in erster Linie

Weitere Kostenlose Bücher