Ueberflieger
besonderer Mensch behandelt, der die Aufmerksamkeit und das Interesse der Erwachsenen verdient. Dies sind entscheidende Charakteristika der konzertierten Kultivierung. Alex muss sich bei der Untersuchung nicht wichtig machen. Er verhält sich dem Arzt gegenüber genauso wie gegenüber seinen Eltern: Mit derselben Ungezwungenheit argumentiert er, verhandelt und macht Witze.
|98| Es ist wichtig zu verstehen, woher diese Fähigkeit kommt, eine Situation nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Sie ist nicht angeboren. Alex hat die Fähigkeit zum Umgang mit Autoritätspersonen nicht von seinen Eltern und Großeltern geerbt. Sie ist auch keine Frage der Rassenzugehörigkeit. Alex Williams ist schwarz, Katie Brindle ist weiß. Es handelt sich um einen
kulturellen
Vorteil. Alex verfügt über diese Fähigkeiten, weil seine Eltern – wie alle gebildeten Familien – sie ihm geduldig beigebracht haben, weil sie ihn angeleitet, geführt und ermuntert haben, und weil sie ihm die Spielregeln erklärt haben. Dazu gehört nicht zuletzt die kleine Generalprobe auf der Fahrt zum Arzt.
Wenn wir über Klassenvorteile sprechen, so Lareau, dann meinen wir in der Regel genau dies. Alex Williams hat einen Vorteil gegenüber Katie Brindle, da seine Familie über ein besseres Einkommen verfügt und da er auf eine bessere Schule geht – vor allem aber, weil das Anspruchsdenken, das er gelernt hat, in unserer modernen Welt eine wichtige Erfolgsvoraussetzung ist.
4.
Genau dies war der Vorteil, den Robert Oppenheimer gegenüber Chris Langan hatte. Oppenheimer wuchs als Sohn einer Künstlerin und eines erfolgreichen Textilfabrikanten in einem der reichsten Stadtteile Manhattans auf. Seine Kindheit ist der Inbegriff der konzertierten Kultivierung. An den Wochenenden ließen sich die Oppenheimers von ihrem Chauffeur aufs Land fahren. In den Sommerferien reiste Robert zu seinem Großvater nach Europa. Er besuchte die an der Westseite des Central Park gelegene Ethical Culture School, eine der progressivsten Schulen der damaligen Zeit, die den Schülern »das Bewusstsein vermittelte, sie würden darauf vorbereitet, die Welt zu verändern«, so seine Biografen. Wenn seine Mathematiklehrerin sah, dass er sich langweilte, ließ sie ihn eigenständig Sonderprojekte bearbeiten.
Als Kind war Oppenheimer ein leidenschaftlicher Steinesammler. |99| Im Alter von zwölf Jahren korrespondierte er mit Geologen der Region über Gesteinsformationen im Central Park. Diese waren so beeindruckt, dass sie ihn zu einem Vortrag vor dem New Yorker Mineralogical Club einluden. Die Reaktion seiner Eltern, die Sherwin und Bird beschreiben, ist ein Musterbeispiel für konzertierte Kultivierung:
Aus Angst, vor einem Erwachsenenpublikum sprechen zu müssen, bat Robert seinen Vater, ihnen zu erklären, dass sie einen Zwölfjährigen eingeladen hatten. Amüsiert ermunterte der Vater den Jungen, die Einladung anzunehmen. Am fraglichen Abend erschien Robert mit seinen Eltern, die ihn stolz als ihren Sohn J. Robert Oppenheimer präsentierten. Die überraschten Geologen und Hobbyforscher brachen in Gelächter aus, als er das Podium betrat: Es musste erst eine Holzkiste gefunden werden, damit die Zuschauer mehr sahen als einen ungekämmten schwarzen Haarschopf, der über das Rednerpult ragte. Schüchtern und unbeholfen las Robert seine Vortrag ab und wurde mit herzlichem Applaus belohnt.
Ist es ein Wunder, dass Oppenheimer so brillant mit den Herausforderungen des Lebens umging? Wer einen Vater hat, der den Aufstieg als Unternehmer geschafft hat, der hat aus erster Hand miterlebt, was es bedeutet, sich in Verhandlungen aus einer schwierigen Lage zu befreien. Wer die Ethical Culture School besucht hat, der lässt sich nicht einschüchtern, wenn Professoren in Perücken und schwarzen Talaren über ihn zu Gericht sitzen. Wer einen Abschluss von Harvard in der Tasche hat, der weiß, wie man mit einem General spricht, der um die Ecke am MIT Ingenieurwesen studiert hat.
Chris Langan kannte dagegen nur die Öde von Bozeman und ein Zuhause mit einem zornigen, betrunkenen Stiefvater. »Das hat Jack Langan uns allen angetan«, sagt Mark. »Jeder von uns hat einen Hass auf jede Form der Autorität.« Das war die Lektion, die Chris Langan aus seiner Kindheit mitnahm: Misstraue der Autorität und bewahre dir deine Unabhängigkeit. Seine Eltern brachten ihm nicht auf der Fahrt zum Arzt bei, seine Interessen zu artikulieren oder selbstbewusst gegenüber Autoritätspersonen aufzutreten.
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