Ueberflieger
darin, ihre Kinder zu versorgen, doch sie lassen sie weitgehend allein aufwachsen und sich entwickeln.
Lareau betont, dass keiner dieser beiden Erziehungsstile notwendig besser ist. Die Kinder der Unterschicht waren ihrer Ansicht nach oft besser erzogen, weniger wehleidig, gingen kreativer mit ihrer Zeit um und handelten mit einem hohen Grad der Selbstbestimmung. In der Praxis hatte die konzertierte Kultivierung jedoch ganz erhebliche Vorteile. Das Kind der Mittelschicht, dessen Zeit weitgehend verplant ist, wird ständig wechselnden Erfahrungen ausgesetzt. Es lernt die Zusammenarbeit mit anderen und den Umgang mit stark strukturierten Situationen. Es erwirbt die Fähigkeit, ungezwungen mit Erwachsenen umzugehen und seinen Standpunkt zu vertreten. Es entwickelt, wie Lareau es formuliert, ein »Anspruchsdenken«.
Dieses Wort hat natürlich heute einen negativen Beigeschmack. Doch Lareau verwendet den Begriff im besten Sinne: »Sie verhalten sich so, als hätten sie ein Anrecht darauf, ihre eigenen Vorstellungen zu verfolgen und Interaktionen in institutionellen Zusammenhängen aktiv in die Hand zu nehmen. In diesen Situationen |96| verhielten sie sich ungezwungen und waren in der Lage, Informationen weiterzugeben und auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen … Für Kinder der Mittelschicht ist es normal, Interaktionen so zu steuern, dass sie ihren Wünschen gerecht werden.« Sie kennen die Spielregeln. »Schon in der vierten Klasse traten Kinder der Mittelschicht eigenständig für ihre Interessen ein, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie richteten spezifische Fragen an Lehrer und Ärzte, um die Abläufe ihren Bedürfnissen entsprechend zu gestalten.«
Im Gegensatz dazu zeichneten sich Kinder der Unterschicht mit zunehmendem Alter durch »Distanz, Misstrauen und Hemmungen« aus. Sie verstanden es nicht, ihre Wünsche durchzusetzen oder ihre Umwelt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
In einer typischen Szene beschreibt Lareau den Arztbesuch des neunjährigen Alex Williams und seiner Mutter Christina. Beide Eltern haben studiert und verdienen gut.
»Alex, überleg doch schon mal, was du den Arzt fragen möchtest«, sagt Christina im Auto auf dem Weg zum Arzt. »Du kannst ihn fragen, was du möchtest. Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Du kannst ihn alles fragen.«
Alex denkt eine Minute lang nach, dann antwortet er: »Ich habe ein paar Pickel unterm Arm, von meinem Deo.« Christina: »Ja? Von deinem neuen Deo?« Alex: »Ja.« Christina: »Du solltest den Doktor mal fragen, was das sein könnte.«
Die Mutter »bringt Alex bei, dass er das Recht hat, sich zu äußern«, schreibt Lareau – es ist völlig in Ordnung, seine Interessen auch einem älteren Menschen und einer Autoritätsperson gegenüber zu äußern. Der Arzt ist ein freundlicher Mann Anfang 40. Er misst Alex und sagt, der Junge gehöre zu den größten 5 Prozent seines Alters. Alex unterbricht ihn:
Alex: Ich gehöre was?
Arzt: Das heißt, dass du größer bist als 95 von 100 Jungen im Alter von, äh, zehn Jahren.
Alex: Ich bin noch nicht zehn.
|97| Arzt: Aber fast. Du bist neun Jahre und zehn Monate alt und damit näher an zehn als an neun.
Beachten Sie, mit welcher Gelassenheit Alex den Arzt unterbricht: »Ich bin noch nicht zehn«. Das ist sein Anspruch: Seine Mutter lässt diese Unhöflichkeit durchgehen, weil er lernen soll, seine Interessen auch gegenüber Menschen in Autoritätspositionen zu vertreten.
Der Arzt wendet sich an Alex: Jetzt kommen wir zum wichtigsten Punkt. Hast du eine Frage, bevor ich mit der Untersuchung anfange?
Alex: Äh, nur eine. Ich bekomme diese Pickel am Arm, hier (zeigt auf seine Achsel).
Arzt: Hier, unterm Arm?
Alex: Ja.
Arzt: Okay. Das sehe ich mir bei der Untersuchung gleich mal an. Und dann sehen wir, was wir dagegen tun können. Jucken diese Pickel?
Alex: Nein, die sind einfach nur da.
Arzt: Okay, ich schau sie mir gleich an.
Im Falle von Kindern der Unterschicht kommt eine Unterhaltung wie diese nicht zustande, schreibt Lareau. Sie sind still, unterwürfig und senken den Blick. Alex nimmt dagegen die Situation in die Hand. »Mit seiner Frage sorgt er dafür, dass der Arzt ihm seine volle Aufmerksamkeit schenkt, und er lenkt diese Aufmerksamkeit auf das Thema seiner Wahl.«
Auf diese Weise gelingt es ihm, das Machtgleichgewicht weg von den Erwachsenen hin zu sich zu verlagern. Dieser Übergang erfolgt völlig reibungslos. Alex ist es gewohnt, dass man ihm respektvoll begegnet. Er wird als ein
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