Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ueberflieger

Titel: Ueberflieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
Flom war Bickel der Sohn osteuropäischer Juden, die in die Vereinigten Staaten eingewandert waren und in Brooklyn lebten. Wie Flom |110| hatte er eine staatliche Schule in New York besucht und schließlich am City College studiert. Und wie Flom war Bickel an der Universität der Star seines Jahrgangs gewesen. Hätte nicht eine Krebserkrankung seine Laufbahn abrupt beendet, hätte Bickel der führende Verfassungsrechtler seiner Generation werden können. Und wie Flom und die übrigen Jurastudenten fuhr Bickel während der vorweihnachtlichen »Einstellungssaison« des Jahres 1947 von Harvard nach Manhattan, um dort eine Anstellung zu suchen.
    Seine erste Anlaufstelle war Mudge Rose an der Wall Street, eine Kanzlei, die womöglich noch traditioneller und steifer war als die übrigen Kanzleien der Zeit. Mudge Rose war im Jahr 1869 gegründet worden. Hier arbeitete Richard Nixon, ehe er im Jahr 1968 die Präsidentschaftswahlen gewann. »Wir sind wie die feine Dame, die ihren Namen nur zweimal in der Zeitung wissen will – anlässlich ihrer Geburt und ihres Todes«, sagte einst einer der Geschäftsführer. Bickel wurde in der Kanzlei herumgereicht und führte mit den Partnern ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen. Schließlich wurde er in die Bibliothek geführt, um sich dem Seniorchef zu präsentieren. Sie können sich die Szenerie vielleicht vorstellen: mit dunklem Holz getäfelte Wände, ein durchgescheuerter Perserteppich, Bücherregale mit in Leder gebundenen Gesetzeskommentaren und an der Wand die Ölporträts von Mr. Mudge und Mr. Rose.
    »Nachdem sie mich auf Herz und Nieren geprüft hatten, wurde ich dem Seniorchef vorgeführt«, erinnerte sich Bickel viele Jahre später in einem Interview. »Der ließ sich herab, mir zu erklären, dass ich es für einen Jungen mit meiner
Vorgeschichte
« – Sie können sich vorstellen, wie Bickel eine kleine Pause machte, ehe er diesen Euphemismus wiederholte, mit dem der Seniorchef seine Einwandererfamilie beschrieb – »sehr weit gebracht hatte. Aber ich müsse doch verstehen, dass es für eine Kanzlei wie die seine kaum denkbar sei, jemanden mit meiner
Vorgeschichte
einzustellen. Er beglückwünsche mich zu meinem Erfolg, doch ich müsse verstehen, dass er mir unmöglich eine Stelle anbieten könne. Aber er freue sich natürlich sehr, mich kennengelernt zu haben, und so weiter.«
    |111| Wenn man sich das Interview heute ansieht, wird deutlich, dass der Historiker, der es führte, nicht so recht wusste, was er mit dieser Geschichte anfangen sollte. Zum Zeitpunkt des Gesprächs stand Bickel auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Er hatte Prozesse vor dem Obersten Gerichtshof geführt und wegweisende Bücher veröffentlicht. Wenn Mudge Rose ihm wegen seiner »Vorgeschichte« eine Anstellung verweigerte, dann war das so, als hätten die Chicago Bulls den Basketballstar Michael Jordan abgelehnt, weil sie keine schwarzen Jungen aus North Carolina in ihrem Team haben wollten. Es schien vollkommen absurd.
    »Aber die Stars?«, fragte der Journalist und meinte damit: Wollten die nicht einmal für
Sie
eine Ausnahme machen?
    Bickel: »Ach was, Stars …«
    In den Vierziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts erinnerten die alteingesessenen New Yorker Kanzleien ein wenig an exklusive Herrenclubs. Sie hatten ihre Büros an der Südspitze von Manhattan, in der Wall Street oder der unmittelbaren Nachbarschaft, in nüchternen, mit Granitfassaden verkleideten Gebäuden. Die Partner waren Absolventen derselben Eliteuniversitäten, sie besuchten den Gottesdienst in denselben Kirchen, verbrachten die Sommerferien in denselben Strandbadeorten auf Long Island und trugen dieselben konservativ grauen Anzüge. Ihre Firmen waren als »Weiß-Schuh-Kanzleien« bekannt – ein Hinweis auf die weißen Dandyschühchen, wie sie in Country-Clubs und auf Cocktailpartys bevorzugt getragen wurden –, und sie hatten sehr genaue Vorstellungen davon, wen sie einstellten und wen nicht. In seinem Buch
The Wall Street Lawyer
über die alteingesessenen New Yorker Kanzleien beschreibt Erwin Smigel das Profil eines Kandidaten:
    Anwälte von »nordischem« Aussehen, angenehmem Umgang und gepflegtem Äußeren, die auf der »richtigen« Universität studiert hatten, den »richtigen« gesellschaftlichen Hintergrund mitbrachten, die »richtige« Lebenserfahrung hatten und mit einer großen Ausdauer ausgestattet waren. |112| Ein ehemaliger Dekan einer juristischen Fakultät bietet eine etwas realistischere

Weitere Kostenlose Bücher