Ueberflieger
bereits ein Jahr hinter ostasiatischen Kindern zurück.
Der Regelmäßigkeit des Zahlensystems ist es außerdem zu verdanken, dass ostasiatische Kinder die Grundrechenarten sehr viel leichter lernen. Wenn Sie ein siebenjähriges Kind auf Deutsch auffordern, siebenunddreißig und zweiundzwanzig zu addieren, muss es diese Zahlen erst im Kopf in Ziffern verwandeln (37+22). Erst dann kann es die Rechenoperation durchführen: 7 plus 2 ist 9, und 30 plus 20 ist 50, macht 59. Wenn Sie dagegen ein Kind in einer asiatischen Sprache auffordern, drei-zehner-sieben und zwei-zehner-zwei zu addieren, ist die Rechenaufgabe bereits in der Formulierung enthalten. Es ist keinerlei Übersetzung von |204| Sprache in Ziffern erforderlich: Das Ergebnis ist fünf-zehner-neun.
»Das asiatische Zahlensystem ist transparent«, erklärt die Psychologin Karen Fuson von der Northwestern University, die sich ausgiebig mit den Unterschieden zwischen Ost und West beschäftigt hat. »Dadurch verändert sich die gesamte Einstellung zur Mathematik. Ich muss die Sachen nicht stur auswendig lernen, sondern es gibt ein Muster, das ich entdecken kann. Ich erwarte, dass ich das kann und dass es einfach ist. Beim Bruchrechnen sprechen wir zum Beispiel von ›drei Fünfteln‹. Im Chinesischen heißt es buchstäblich, ›von fünf Teilen, nimm drei‹. Die Formulierung erklärt, was ein Bruch ist, und ermöglicht eine eindeutige Unterscheidung zwischen Zähler und Nenner.«
Die vielbeschworene Mathematikangst, die unter westlichen Kindern umgeht, beginnt in der dritten und vierten Klasse. Fuson meint, ein Teil dieser Angst sei darauf zurückzuführen, dass Mathematik sinnlos erscheint, dass sie sprachlich schwer zu erfassen ist und dass den Kindern ihre Grundregeln schwierig und willkürlich vorkommen.
Asiatischen Kindern bleibt diese Verwirrung dagegen erspart. Sie können sich Zahlen besser merken und Rechenoperationen schneller durchführen. Der sprachliche Ausdruck eines Bruchs entspricht exakt dem, was ein Bruch tatsächlich ist. Deshalb macht den Kindern Mathematik vermutlich ein bisschen mehr Spaß, und das wiederum sorgt dafür, dass sie mehr für Mathematik tun und ihre Hausaufgaben lieber machen. Auf diese Weise kommt ein positiver Selbstverstärkungseffekt in Gang.
Mit anderen Worten haben asiatische Kinder in Sachen Mathematik einen eingebauten Vorteil. Es ist jedoch ein ungewöhnlicher Vorteil. Seit Jahren schneiden Kinder aus China, Korea und Japan sowie im Ausland lebende Kinder aus diesen Ländern bei internationalen Vergleichstests in Mathematik erheblich besser ab als gleichaltrige Kinder aus westlichen Ländern. Lange ging man davon aus, Asiaten müssten so etwas wie ein angeborenes Mathematiktalent |205| besitzen. 28 Der Psychologe Richard Lynn ging sogar so weit, eine Evolutionstheorie aufzustellen, in der er den Himalaja, das kalte Wetter, prähistorische Jagdmethoden, Gehirngrößen und besondere Vokalklänge heranzog, um zu erklären, warum Asiaten angeblich über einen höheren Intelligenzquotienten verfügten. 29 So denken wir über Mathematik: Wir gehen davon aus, dass gute Leistungen in Algebra direkt mit der Intelligenz eines Menschen zusammenhängen. Doch die Unterschiede in westlichen und östlichen Zahlensystemen legen eine andere Erklärung nahe: Gute Leistungen in Mathematik könnten in der Kultur verankert sein.
Im Falle der Koreaner war ein tief verwurzeltes Erbe ein Hindernis dafür, Flugzeuge zu fliegen. Beim Zahlensystem jedoch handelt es sich um ein anderes kulturelles Erbe, das im 21. Jahrhundert sehr nützlich ist. Das kulturelle Erbe spielt eine wichtige Rolle. Wenn wir erkennen, welche überraschenden Auswirkungen Machtdistanz oder die Länge von Zahlwörtern haben können, dann drängt sich eine Frage auf: Gibt es noch weitere kulturelle Eigenheiten, die einen Einfluss darauf haben, wie wir die intellektuellen Herausforderungen dieses Jahrhunderts bewältigen? Kann es sein, dass eine vom Reisanbau geprägte Kultur ihren Angehörigen einen Vorsprung in Mathematik verschafft? Hat ein Reisfeld Auswirkungen auf schulische Leistungen?
|206| 3.
Das Bemerkenswerteste an einem Reisfeld – etwas, das man erst feststellt, wenn man tatsächlich darauf steht – ist seine Größe. Es ist ungefähr so groß wie ein Hotelzimmer und damit ziemlich klein. Zu einem typischen Familienbetrieb gehören zwei oder drei Reisfelder. Ein Dorf mit 1 500 Einwohnern ernährt sich von rund 180 Hektar Land – so viel, wie zu einem
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