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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Deutschkron
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Schülern herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Einige wanderten aus. Lehrer verschwanden, waren verhaftet worden. Manchen Vater traf ein ähnliches Schicksal. Schüler und Lehrer waren nervös. Sollte man auswandern, sollte man bleiben? War ein menschenwürdiges Dasein in Deutschland überhaupt noch möglich? Die Schule tat alles, um uns auf eine mögliche Auswanderung vorzubereiten. Sie bot vermehrten Unterricht in Fremdsprachen an, lehrte uns Stenographie und Schreibmaschine schreiben, Kochen und Nähen. Das ging natürlich auf Kosten traditioneller Fächer. Chemie, Physik, Mathematik blieben mir fremde Wissenschaften. Ohne diese Kenntnisse habe ich bis heute problemlos gelebt. In Geschichte und Literatur bedauere ich meine Lücken. Große Freude bereiteten uns Sportfeste, die jüdische Schulen auf einem eigens dafür gemieteten Sportplatz im Grunewald veranstalteten. Das waren Ereignisse, denen wir entgegenfieberten. Die Erinnerung an diese Stunden auf dem Sportplatz ist die einzige wirklich angenehme Erinnerung an meine Schulzeit. Dort schüttelten wir alles uns Bedrückende ab. Wenn wir jedoch zur Rückkehr in die S-Bahn einstiegen, war diese gelöste Atmosphäre schnell wieder dahin. Wir achteten sorgsam und nicht ohne Ängstlichkeit darauf, kein Aufsehen, geschweige denn Anstoß zu erregen. Wenn eine von uns zu laut lachte, dann wurde sie von den anderen zurechtgewiesen. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, ahnten wir doch, daß wir von den Mitreisenden als jüdische Kinder erkannt und angepöbelt werden konnten.
    Meine Eltern versuchten, alles Demütigende zu ignorieren oder es mit Lachen abzutun. Dabei halfen ihnen die alten Freunde, die jeden Witz über die Nazis wie eine Offenbarung über deren Unfähigkeit aufnahmen. Herr Gumz, der die Schmutzwäsche zu holen und die saubere Wäsche zu liefern pflegte, hatte immer neue Witze parat, die er bei seinen Kunden zu hören bekam. Dazu gehört eine Begebenheit, die als Wahrheit in Berlin verbreitet wurde. Im Rahmen einer Naziveranstaltung sei ein Teilnehmer aus dem Publikum aufs Podium gebeten worden, um am Beispiel seines Ohres die rein arische Abstammung zu verdeutlichen. Der Versammlungsleiter ahnte nicht, daß der, den er aufs Podium gebeten hatte, Jude war.
    Als mich tatsächlich ein Fotograf entsprechend der Nazitheorie aufforderte, mein linkes Ohr freizumachen, damit der Unterschied zwischen einem semitischen und einem arischen Ohr auf dem Foto deutlich sichtbar wurde, war ich den Tränen nahe. Ich war damals 16 Jahre alt und wie jedes junge Mädchen eitel. Dieses Foto war für eine Kennkarte bestimmt, auf der auch unsere Fingerabdrücke abgedruckt wurden, um so das Kriminelle als Wesensmerkmal des Juden sogleich kenntlich zu machen. Diese Kennkarte enthielt auch zum ersten Mal die für uns vorgeschriebenen Zusatznamen, Sara für Frauen, Israel für Männer, die zwischen Vor- und Zunamen eingefügt werden mußten. Und wieder versuchte mein Vater, diese Verordnung ins Lächerliche zu ziehen, indem er feststellte, er habe nun zwei „Zores“ in Abwandlung des Namens Sara. Zores oder Zaroth bedeutet auf Hebräisch „Sorgen“. Immer wieder führten meine Eltern mir vor, wie sie mit dem gegen sie gerichteten Unrecht fertig zu werden verstanden. Als die Nazis anordneten, daß Juden ihr Gold und Silber abzuliefern hätten, suchten meine Eltern alle kaputten, verbeulten und verbogenen Gegenstände für die Abgabe zusammen. Von unseren nichtjüdischen Freunden, den Riecks, den Garns, den Ostrowskis, erbaten wir ähnliches, um die Menge der abzuliefernden Gegenstände zu vergrößern und glaubhafter zu machen. Unser Familiensilber nahmen unsere „Aufbewahrier“ zu sich, wie wir diese Freunde nannten. Das alles ging unter großem Gelächter vor sich. In dieser Atmosphäre wuchs ich auf.
    Der Wendepunkt kam am 9. November 1938, als die Nazis das erste staatlich organisierte Pogrom inszenierten. Sie nahmen dafür den Mord eines jungen Juden an einem deutschen Diplomaten zum Vorwand. Jetzt begannen die deutschen Juden, die Wirklichkeit zu begreifen. Selbst mein Vater verstand nun, daß ein Jude nicht mehr in Frieden in Deutschland würde leben können. Aber das Auswandern war schwerer geworden. Das Ausland sträubte sich gegen die Aufnahme mittellos gewordener Menschen, obwohl ihnen die Verfolgung der Juden in Deutschland nicht verborgen geblieben sein konnte. England und Schweden nahmen Kinder ohne Eltern auf. Ich lehnte ein solches Ansinnen ab. Ich war

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