Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Wäsche wusch, meine Mutter. Sie und ihr Mann würden uns verstecken, sagte sie. Ein Soldat sei von der Front im Osten zurückgekehrt und habe berichtet, was sie dort mit den Juden machten. Sie weinte. Meine Mutter zögerte. Sie konsultierte andere nichtjüdische Freunde, die meinem Vater, der kurz vor Kriegsausbruch nach England fliehen konnte, versprochen hatten, uns beizustehen. Sie schworen, daß wir uns auf sie verlassen könnten. Und so nahmen wir am 15. Januar 1943 unser illegales Leben auf – ohne festes Zuhause, ohne Ausweise, ohne Lebensmittelkarten.
Nein, der Mensch gewöhnt sich nicht an alles: Wir vergaßen keinen Moment, daß unsere Freunde ihren Kopf riskierten, damit wir überleben konnten, daß wir für jede Notwendigkeit des Lebens, und war sie noch so klein, von ihnen abhängig waren und daß wir von einer Minute zur anderen gezwungen sein könnten, in eine andere Unterkunft fliehen zu müssen, weil wir aufgefallen waren. Wir versuchten, zu unserem Zusammenleben mit Menschen, die wir oft vorher kaum gekannt hatten, beizutragen. Wir stahlen Gemüse von den Feldern im Umland von Berlin. Meine Mutter wurde perfekt im Stehlen von Kohlköpfen. Ich nahm sie in einem Sack auf. Einmal fragte ich sie: „Genug – wie viele willst du denn noch stehlen?“ Indigniert reagierte sie: „Was verlangst du noch von mir? Stehlen soll ich und dabei noch zählen?“ Wir lachten. Es hatte den Charakter des Satzes: Ich lache, also lebe ich. Eine Freundin besaß ein Papiergeschäft. Sie meinte, ich könnte ihr im Geschäft helfen. Niemand würde meine wahre Identität erkennen. Ich bewährte mich. Sie ließ mich häufig im Laden allein. Oft trafen sich Kunden zu Gesprächen im Laden. Daß der Krieg kein gutes Ende für Deutschland nehmen würde, war keinem von ihnen entgangen. Nur die hundertprozentigen Nazis glaubten noch an den Endsieg. „Wissen Sie, wann der Krieg zu Ende ist?“ „Wenn Göring in die Hosen von Goebbels paßt.“
Man lachte, doch darin war die Sorge um die Ernährung enthalten. Lebensmittel waren nun für alle knapp geworden. „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ , sang Zarah Leander. Der Volksmund fügte hinzu: „und im nächsten Dezember gibt’s wieder ein Ei.“
Bitterkeit schwang mit nach den Jahren der Entbehrungen und der Angst. „Was machst du nach dem Krieg?“, fragte einer den anderen. „Ich werde endlich richtig reisen, Urlaub machen. Ich will Großdeutschland kennenlernen“. „Und was machst du am Nachmittag?“
Bei der Durchsicht einer Auslage im Papiergeschäft fand ich eines Abends eine Brieftasche inmitten von Grußkarten. Ich öffnete sie. Ich erblickte einen Satz Lebensmittelkarten für einen Monat und einen drei Monate gültigen Haushaltsausweis, der zum Kauf von Sonderrationen berechtigte. Welch ein Schatz für eine illegal lebende Jüdin! Doch ich beschloß, meiner Freundin die Entscheidung zu überlassen, was damit geschehen sollte. Die Besitzerin der Brieftasche hieß Amanda Heubaum. Ihre Personalien ähnelten denen meiner Mutter. Bei näherer Untersuchung der Brieftasche fand sich in einem Seitenfach ein postkartengroßes Porträt von Adolf Hitler. „Wer dieses Porträt mit sich herumträgt, beweist, daß er diesem Verbrecher Sympathien entgegenbringt“ , entschied meine Freundin und händigte die Brieftasche samt Inhalt meiner Mutter zur Nutzung aus. Wir nannten meine Mutter von nun an nur noch Amanda Heubaum. Sie schimpfte, wir lachten.
Trotz des nahen Endes des Krieges wurde unsere Situation schwieriger. Fliegerbomben der Alliierten zerstörten potenzielle Verstecke. Wir schliefen nun irgendwo auf dem Fußboden, auf umgekehrten Sesseln, auf einem Sofa zu zweien, auf Luftmatratzen hinter dem Tresen eines Geschäftes, in einer Küche, in einer Laube, in einem Bootshaus, in einem ehemaligen Ziegenstall. Lebensmittel wurden so knapp, daß unsere Freunde Mühe hatten, uns von ihren Rationen mitzuernähren.
Es mußte etwas geschehen. Die kurze Zeit, die es noch bis zur Kapitulation des deutschen Reiches dauern würde, mußte überbrückt werden. Noch jagten die Nazis Juden, die sich versteckt gehalten hatten, und deportierten sie in ein im Reich gelegenes Konzentrationslager. Sie taten dies bis Ende März 1945. Wieder wußten unsere Freunde Rat. Wir fuhren mit der Bahn in Richtung Front. Im Spreewald bestiegen wir einen Zug, der Flüchtlinge aus Schlesien nach Berlin bringen sollte. Wir lauschten ihren Gesprächen. Wir wollten über die Zustände in
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