Überm Rauschen: Roman (German Edition)
kann nichts dafür, dass es so gekommen ist, Leo. Was hätte ich denn machen sollen?»
Die Gäste wollten einen Imbiss, an der Theke musste bedient werden. Die Brückenarbeiter standen vom Frühstückstisch auf, zogen ihre Regenjacken an, setzten die Schutzhelme auf, einer kam, bevor er die Gaststätte verließ, zur Theke und tuschelte mit Alma. Nachdem die Arbeiter gegangen waren, räumte Alma ihr Frühstücksgeschirr ab, kam damit in die Küche, stellte es auf die Anrichte und begann mit dem Abwasch. Reese legte ihr Strickzeug auf den Küchentisch, schlurfte zur Anrichte, nahm ein Küchentuch und trocknete die Töpfe und Pfannen ab. Sie stellte einen schweren Gusstopf auf die Spüle, wischte ihn innen trocken, fuhr dann mit dem Tuch außen herum, stellte ihn auf die Anrichte und räumte das schmutzige Besteck in die Spülmaschine.
Während Alma und Reese spülten, saß ich allein am Küchentisch. Ich hörte die Mailbox meines Handys ab und legte es in die Rucksacktasche zurück, stand auf, ging zum Fenster und sah zum Fluss. Der Nebel überm Wasser löste sich auf, zog am Ufer entlang und verfing sich wie ein zartes Tuch im Ufergestrüpp, es nieselte leicht. Auf der Brücke holten die Arbeiter Werkzeug aus einem Pritschenwagen. Sie bohrten Löcher, spannten eine Schnur, vermaßen etwas. Alma sagte, dass die Brückenarbeiter nun schon seit zwei Wochen bei uns logierten. Die Brückenarbeiter seien sehr angenehme Gäste. Ein Zug hielt am Bahnhof. Schüler und eine Wandergruppe stiegen aus. Einige Schüler kamen in die Gaststätte zum Kickerspielen. Sie warteten auf ihren Bus, redeten darüber, dass ihr Lehrer plötzlich erkrankt und der Unterricht ausgefallen sei. Alma bat mich, die Schüler zu bedienen. Sie trugen Aufnäher des Gymnasiums, das auch Hermann besucht hatte – das Bildnis des heiligen Hermann Joseph, der die Eifel christianisiert hatte und nach dem auch Hermann, wie viele hier in der Gegend, seinen Namen erhalten hatte. Vielleicht hätte Hermann nicht aufs Gymnasium gehen sollen, vielleicht fängt das Unglück damit an, dass man Dinge lernen muss, die man nicht lernen will, dass man plötzlich in einer Welt ist, in die man nicht gehört, in der man sich völlig fremd fühlt.
Ich kann nicht behaupten, dass ich für Hermann in diesen Jahren ein guter Bruder gewesen bin, ich fing damals an, ihn zu verspotten, wie es auch meine Freunde taten – alles, was er machte und was ich früher bewundert hatte, erschien mir nun lächerlich. Eifersüchtig war ich, weil Alma sich seinetwegen von mir abgewandt hatte, sich nur noch um ihn kümmerte, dass alle sich nur noch um Hermann bemühten.
Ich bezweifle, dass unsere Mutter von diesen Vorgängen etwas mitbekommen hat, weiß nicht, in welcher Welt sie damals lebte und ob sie nach Valentins Tod noch etwas wirklich interessierte, außer ihren gelegentlichen Eskapaden mit fremden Männern. Reese jedenfalls sagte einmal, dass nach Valentins Tod ihre Lebensfreude plötzlich dahin gewesen sei. Sie habe früher viel gelacht, gesungen und Klavier gespielt, danach aber nichts mehr dergleichen getan.
Damals war mir egal, was Reese sagte, der wichtigste Mensch für mich war Alma. Ich prügelte mich ihretwegen mit Hermann, ohne dass es offen zur Sprache kam. Es war leicht, Hermann zu demütigen, er ließ sich alles gefallen, nur um seine Ruhe zu haben. Obwohl ich jünger war, war ich ihm körperlich überlegen. Ich hatte damals vor nichts Angst außer vorm Alleinsein – Angst vorm Alleinsein hatte Hermann nicht, der konnte tagelang alleine sein. Wir waren in vieler Hinsicht verschieden. Hermann zog sich mit der Zeit immer mehr zurück, während ich mich herumprügelte und Gesellschaft suchte, wenn auch keine gute.
Einer der Schüler hängte seinen Parka über die Stuhllehne und krempelte die Hemdsärmel hoch. Die anderen warteten auf ihn und drehten währenddessen ungeduldig an den Kickerstangen. Ich brachte den Jungen Cola und Limonade zum Kicker. Als Hermann auf dem Gymnasium gewesen war, hatte er jeden Tag Angst, in die Schule zu gehen, nachts redete er im Traum und wachte oft verschwitzt auf. Er konnte es Vater nicht sagen, wollte ihn nicht enttäuschen.
Zehner torkelte durch die Gaststätte und die Treppe hinunter zum Pissoir. Die Pissoirtür pendelte und schrammte über die Fliesen. Er stand vermutlich unten und pinkelte gegen die gekachelte Wand, sein Lallen schallte bis zum Gastraum hoch. Der Tabaklieferant kam herein, er hatte den Zigarettenautomaten an der
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