Überm Rauschen: Roman (German Edition)
im Ort hatte man keinen Platz mehr für große Viehställe. Um rentabel zu produzieren, brauchte man mindestens hundert Kühe, sonst erhielt man kein Geld von der Genossenschaftsbank. Chrisand, Reeses Mann, wollte damals aber den Ort nicht verlassen, so gaben sie irgendwann die Landwirtschaft ganz auf, und Chrisand hatte, wie die meisten hier, daraufhin im Zementwerk gearbeitet.
Während die Schwestern mit Reese redeten, gebärdeten sie sich wieder wie kleine Mädchen. Renate drehte Haare um ihren Finger und Claudia biss sich auf die Unterlippe, während sie Reese gespannt zuhörte. Doch dann fragte die Jüngere, wie es so weit habe kommen können, was bloß mit Hermann sei. Reese zuckte mit den Schultern, wickelte etwas Wollfaden um ihren Zeigefinger, das Knäuel rollte unter den Küchentisch. Renate sah in die Runde, als müssten wir die Antwort parat haben, als wüsste jemand, warum dies geschehen war. Niemand sagte etwas, was sollten wir auch sagen? Hermann war in den letzten Jahren immer sonderbarer geworden, hatte keinen Kontakt mehr zu seinen Schwestern gehabt, die ihn, wie er meinte, enttäuscht hatten, aber das hat er auch von anderen gedacht. Eigentlich haben ihn alle enttäuscht, schließlich konnte es ihm niemand mehr recht machen. Und was hatte er gemacht? Alles war geblieben, wie es immer war, nichts hatte sich verändert, die Zeit verging, der Fluss strömte an unserem Haus vorbei zum Rauschen, wo das Wasser unaufhörlich hinunterstürzte, in einen großen See verlorener Zeit.
Während wir in der Küche zusammensaßen, hockte Zehner an der Theke, schnitt vor der verchromten Zapfsäule Grimassen. Nachdem Alma bedient hatte, kam sie in die Küche zurück, ich ging zu meinem Bruder hinauf. Am Flurende, wo der Eingang für Hotelgäste ist, hörte ich, wie Zehner meinen Namen rief und Alma ihm sagte, er solle still sein. Die Hotelgäste bekommen einen Schlüssel für diese Tür, damit sie nicht durch die Gaststätte gehen müssen. Das Treppenhaus führt in die erste und zweite Etage hinauf. Auf einem Treppenabsatz stand eine von Mutter bemalte Milchkanne, an der Wand hing noch immer die topografische Karte der Eifel, von Werbeanzeigen der Raiffeisenbank, des Autohauses, des Zementwerkes, der Zehnermühle eingerahmt. Ich sah den Verlauf der Urft, der Kyll, der Sauer und Nims, der Flüsse, die sich durch enge felsige Täler schlängeln. Jemand hatte mit Kugelschreiber Kringel um die Dörfer gemalt, Hunscheidt, Krekel, Wahlen, Floisdorf, Mürlenbach, Birresborn, Kyllburg und Keldenich, eine markierte Route an Kalk- und Sandsteinbrüchen vorbei. An der Wand im Treppenhaus und im Flur hingen Fischzeichnungen von Hermann, darunter in winziger, kaum lesbarer Schrift seine Beobachtungen über diese Fische. Schließlich stand ich vor dem Zimmer meines Bruders. Er wollte eigentlich nie ein eigenes Zimmer haben, zog es vor, in einem der Gästezimmer zu schlafen, die alle gleich eingerichtet sind, eine weiß gekachelte Dusche, ein Schrank, ein Tisch, das Bett, daneben die Tür zum Balkon. Im Flur war es klamm und kühl, das ganze Haus zu heizen ist in der Übergangszeit zu teuer, wenn nur wenige Gäste bei uns logieren. Damals, als Hermann von der Seefahrt zurückkam, baute er von seinen Ersparnissen in einige Zimmer Duschen und Toiletten ein und installierte eine Ölheizung im Haus. In den vergangenen Jahren blieb aber nie Geld übrig, um auch die restlichen Zimmer zu renovieren. In den Wintermonaten waren die Einnahmen oftmals so gering, dass die Getränkelieferanten nicht bezahlt werden konnten. Ich stand vor der Tür und versuchte, mit meinem Bruder zu reden. Ich sagte, dass ich mit ihm fischen gehen wolle, gleich oder am nächsten Tag in aller Früh, noch bevor die ersten Angler am Fluss sein würden, so wie wir es früher mit Vater gemacht hatten. Er antwortete nicht. Ich sagte, dass ich extra aus Hamburg gekommen sei und in Köln lange gewartet habe, bis endlich eine Bahn in die Eifel gefahren sei. Ich fragte, wie es ihm so gehe und was mit ihm los sei, warum er nicht sprechen wolle, sagte, dass Alma verzweifelt sei und nicht alles allein machen könne, wieso er zuletzt auch noch von dem Fisch angefangen habe, jeder wisse doch, dass das nur ein Hirngespinst von unserem Vater gewesen sei, niemand habe diesen Fisch jemals gesehen, es sei doch nur eine Geschichte, die Angler sich erzählten, die Vater aufgeschnappt und geglaubt habe. Vater hatte viele Geschichten geglaubt und weitererzählt, das ganze Leben war
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