Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Wand neben dem Eingang zur Gaststätte aufgefüllt, er trank ein Bier und spielte mit seinem Handy herum, achtete nicht auf Zehners Gerede, der nun wieder an der Theke saß. Zehner redete von der Holländerin, sie habe Sommersprossen unter den Augen und auf den Nasenflügeln gehabt, sei aus dem Fluss gezogen worden, zwischen den Zehen Schlamm, Wasserläufer mit goldfarbenen Füßchen in ihrer Hand. Er zog Kickerbälle aus seiner Tasche und sagte: «So dick und hart waren meine Eier.» – Immer wieder tickte er die Bälle gegeneinander. «… hat gelutscht, bis sie so hart waren.» Dann beschrieb er wieder, wie sie unter dem Eis aufgetaucht war, dass sie blaue Ohrenschützer trug und ihre Augen wie von Nadeln zerstochen waren. Überall in der Nähe seien Schleien gewesen, denn die Schleie sei ein Totenfisch.
Die Schleie (Tinca tinca) hat einen gedrungenen kräftigen Körper mit hohem Schwanzstiel. Ihr Rücken ist meist dunkelgrün oder braun, die Flanken sind hell und glänzen messingfarben. Jeder Fisch hat seinen ihm zugewiesenen Platz im Fluss. So bewohnt die Schleie langsam fließendes, weichgründiges Gewässer und lebt tagsüber am Grund zwischen dichten Pflanzenbeständen. Erst in der Dämmerung wird sie aktiv. Zum Laichen schließen sich die Schleien in Schwärmen zusammen und suchen flache, durchsonnte Uferbereiche mit dichtem Pflanzenbewuchs auf.
14
Ich versuche mein Glück mit einer 012er Vorfachspitze, an die ich eine künstliche Hoflandsfliege knüpfe. Die Hoflandsfliege ist bei direkter Sonneneinstrahlung geeignet, da sie selbst auf irisierenden Wasseroberflächen gut zu erkennen ist. Hermann hat sie mit roter Seide gebunden, die Flügel sind aus den hellbraun gesprenkelten Schwungfederspitzen einer Fasanenhenne gefertigt. Ich ziehe die Vorfachschnur durch einen gefalteten Grashalm, um das Fett zu entfernen und damit das Vorfach im Oberflächenfilm einsinken kann. Dann wate ich vom Ufer bis zu einer Biegung. Ich stehe im Fluss oberhalb des Bahnhofs. Ich schiebe die Rute beim Vorschwung nach vorn, wenn sich die Leine vorne gestreckt hat, ziehe ich die Rute nach hinten, für einen Moment, nachdem ich die Rute kurz gestoppt habe, liegt die Schnur hinter mir gestreckt in der Luft, und dann werfe ich meinen Köder aus.
Jungen überqueren die Gleise, sehen einen Moment zu mir hin und klettern dann auf der anderen Seite des Bahndamms die Böschung hinauf, um von dort über den Parkplatz zum Supermarkt zu gelangen. Einige von ihnen sind Schüler, die gestern zum Kickerspielen in der Gaststätte waren, ich hatte sie bedient, mit ihnen geredet. Bestimmt wissen die Jungen auch, was mit Hermann geschehen ist, bestimmt war es gestern Thema beim Abendessen in ihrem Elternhaus. So etwas geht wie ein Lauffeuer durch den Ort. ‹Ach, der Hermann …, ja kein Wunder, dass es einmal so kommen musste›, werden die Leute sagen, sie werden auch wieder über die Holländerin reden, die man im Frühjahr am Rauschen gefunden hatte. Vielleicht hat er ja doch was damit zu tun gehabt, wenn er solch verrückte Sachen macht, werden sie vermuten.
Seit Hermann vor einem Jahr bei der Arbeit im Staubsilo verunglückt und dort beinahe umgekommen war, ist er immer absonderlicher geworden. Vielleicht ist das zu viel für ihn gewesen, er war ja immer schon etwas seltsam und verschroben, sie werden denken: ‹Von seinen Geschwistern hat sich ja keiner um ihn gekümmert.›
Ich stehe im Fluss, erinnere mich, wie Alma zum ersten Mal zu uns in die Gaststätte kam und Mutter nach Arbeit fragte. Vorher hatte sie im Supermarkt gearbeitet, der damals noch gar kein richtiger Supermarkt war, sondern nur ein großer Lebensmittelladen in der Lagerhalle der einstigen Molkerei.
«Den ganzen Tag an der Kasse sitzen gefällt mir nicht», sagte sie zu Mutter. Damals trug sie eine Brille, schielte und fantasierte von ihren französischen Vorfahren, Hugenotten, die im 17. Jahrhundert in den Osten vertrieben worden waren. Sie spielte immer Französin, tauchte ihre Brötchenhälften in den Milchkaffee, den sie ‹café au lait› nannte, und führte die Tasse mit dem abgespreizten kleinen Finger zum Mund. Sie war, als sie bei uns anfing, sechzehn Jahre alt, drei Jahre älter als Hermann und ziemlich altklug.
Ich frage mich, wieso sie so viel mit uns zusammen war, die anderen Mädchen in ihrem Alter hatten schon erwachsene Freunde. Ihre Familie wohnte noch nicht lange in unserer Gegend, sie waren aus dem Osten gekommen, Aussiedler,
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