Übersinnlich
Teufelsding das Genick brechen. Damit es keine Kinder mehr holt.“
Ein kalter Hauch schien Eves Nacken entlangzustreichen. „Was für ein Teufelsding?“
„Mariposa.“
„Ich dachte, das ist eine Legende?“
„Da unten haust jedenfalls was.“ Javier zuckte mit den Schultern. „Keiner hier traut sich, was zu sagen. Die Kleine, die sie heute früh gefunden haben, wollte zu den Cops gehen. Und jetzt ist sie tot.“
„Kennen Sie sich da unten aus?“ Eve kletterte hinter Javier die Leiter im Wartungsschacht hinab, der hinter den Containern lag. Alan war dicht hinter ihr. Sie mochte es, ihn im Rücken zu wissen. Es gab ihr ein gutes Gefühl.
„Ich kenne diese Wege wie meine Westentasche.“ Ein Hauch Stolz schwang in Javiers Stimme. „Als ich noch für de Vito gearbeitet habe, hat mich nie jemand erwischt. Ich konnte überall in der Stadt auf- und abtauchen. Hab den Stoff unterirdisch transportiert und in den Kanälen versteckt, wenn die Cops mir am Arsch klebten. Die unteren Schächte sind nicht mal in den Karten verzeichnet.“
Die Treppe mündete in einen niedrigen Tunnel. Nach einem gut zehnminütigen Marsch, währenddessen nur ihre gepressten Atemzüge von den Wänden zurückhallten, zwängten sie sich durch ein verbogenes Gitter in einen lichtlosen Schacht, stolperten und rutschten eine Rampe hinunter und fanden sich schließlich in einem Korridor mit losem Kies unter ihren Füßen.
„Wo sind wir hier?“, fragte Eve.
Javiers Taschenlampenstrahl tanzte über graffitiverschmiertes Mauerwerk. Ein Autowrack verrottete neben der Wand.
„Hier sollte mal eine unterirdische Metrolinie gebaut werden. Der Tunnel ist bestimmt achtzig Jahre alt.“
Sie folgten dem Korridor eine Zeit lang und stiegen eine schmale Seitentreppe hinunter, die Eve übersehen hätte, wäre Javier nicht gewesen. Sie wateten durch stinkende Pfützen und setzten ihren Weg durch ein Labyrinth von Gängen fort, in die in regelmäßigen Abständen Eisentüren eingesetzt waren. Javier führte sie immer tiefer hinab. Bald hatte sie jeden Ortssinn verloren.
„Still jetzt.“ Abrupt blieb er stehen. „Wir sind gleich da. Normalerweise schläft sie tagsüber, aber seid trotzdem vorsichtig.“
Er entriegelte eine schwere Holztür. Wärme schlug ihnen entgegen, zusammen mit dem Geruch von faulenden Blumen und vergorenem Wein. Sie zog ihre Pistole aus der Handtasche. Das Knacken, als sie die Sicherung zurückschob, sprang überlaut in die Stille und trug ihr Javiers vorwurfsvollen Blick ein.
Der quadratische Raum auf der anderen Seite sah aus wie eine alte Krypta. Ein Kreuzgewölbe aus verwitterten Ziegeln, Spinnweben in den Fugen. Brennende Kerzen bedeckten den Boden, viele davon umgestürzt. Der Gestank verrottenden Fleisches mischte sich mit Weihrauch und Sandelholzduft. Auf der anderen Seite der Krypta klaffte ein schwarzer Durchgang, dahinter der Ansatz einer Treppe.
„Sie ist nicht hier“, wisperte Javier. „Gott sei Dank.“
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Eve.
„Wir stehen vierzig Fuß unter der St. Johns Kirche.“
„Und wohin führt dieser Tunnel?“
„Zur Kammer mit dem Santa Muerte Schrein.“ Javier spähte über seine Schulter, als erwartete er jeden Moment einen Angriff.
„Warum haben wir den riesigen Umweg gemacht?“
„Um ihr nicht über den Weg zu laufen.“
„Er hat recht“, sagte Alan. „Hier unten ist etwas.“
Plötzlich hatte er diesen Blick, mit dem er nicht länger wie der kunstsinnige Maler aussah, in den sie sich verliebt hatte, sondern wie ein kaltäugiger Söldner, der es gewohnt war, ein Lager voller Guerilleros im Alleingang auseinanderzunehmen. Und es waren nicht die Augen allein. Es war die Art, wie seine Körperspannung sich veränderte, wie sich ganz leicht seine Wangenmuskeln verhärteten, wie sich jeder Gegenstand, den er ansah, in eine potenzielle Waffe verwandelte.
Auch Javier nahm die Verwandlung wahr. Er starrte Alan an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
„Alan“, fragte sie, „was meinst du damit?“
„Ich spüre etwas. Ganz schwach, aber es ist lebendig.“
„Was spürst du?“ Sie musste sich zusammenreißen, um nicht hysterisch werden. In der Mitte der Krypta stand ein Steinquader, die Ränder mit Wachs verkrustet. Unmengen von Blumen waren dort aufgehäuft, in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Dazwischen Perlenkettchen, Stofffetzen und an die hundert Fotografien, die einfach in den Haufen gesteckt waren.
„Eine Aura.“ Alan bewegte sich nicht.
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