Übersinnlich
Alan, verunsichert über die Gleichgültigkeit, mit der er ihre Neuigkeit aufnahm. „Das hat mir Reverend Alarcon erzählt. Javier hat als Drogenkurier gearbeitet und Marty seinem Boss vorgestellt, der den Jungen als Fahrer anheuerte. Sechs Monate später wurde sein kleiner Bruder bei einer Schießerei mit einer rivalisierenden Gang getötet. Javier ist nie darüber hinweggekommen. Er ist ausgestiegen und besitzt heute eine kleine Autowerkstatt.“
Nun ließ Alan den Pinsel doch sinken. Härte flackerte über sein Gesicht. „Warum erzählst du mir das?“
„Weil ich dachte, es interessiert dich.“ Sie wich seinem Blick nicht aus. „Ich weiß, dass es dich quält. Aber du kannst deinen Gespenstern nicht ewig davonlaufen. Vielleicht war es Schicksal, dass ich über den Burschen gestolpert bin. Morgen treffe ich seinen Vater. Komm einfach mit.“
„Und was soll ich Javier deiner Meinung nach sagen?“ Seine Stimme wurde schneidend. „Hey, ich bin der Kerl, der vor fünfzehn Jahren deinen Bruder erschossen hat, schön, dich kennenzulernen? Es war nur eine Verwechslung, tut mir leid? Wir waren eigentlich gute Freunde?“
Sie ließ sich auf den Boden sinken und lehnte den Rücken gegen die Wand. „Okay. Dann gehe ich eben allein.“
Der Knoten in ihrem Magen war zurück. Es fiel ihr schwer, ihren Ärger zu unterdrücken. Ja, es war ein Fehler gewesen, anzunehmen, dass er die Aufregung teilen würde, die sie bei ihrer Entdeckung ergriffen hatte. Das verstand sie nun. Ein Fehler, ihm von dem Jungen und seinem Vater zu erzählen.
Alan presste die Lippen zu einem Strich und malte mit gewalttätigen Pinselstrichen.
In ihren Ärger mischte sich ein leiser Schmerz, der nicht der ihre war, den sie aber dennoch spürte. Sie war ungerecht zu ihm. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte, dass es nicht ihre Absicht gewesen war, alte Wunden aufzureißen und ihn in die Ecke zu treiben.
Unwillkürlich tastete sie nach seinem Geist, doch fand nicht die geringste Resonanz. Auf mentalen Zehenspitzen wich sie zurück. Nichts deutete darauf hin, dass er ihren Annäherungsversuch überhaupt bemerkt hatte.
Asâêls Gabe funktionierte nicht bei ihm, hatte es nie getan. Wenn sie sich nach seinem Bewusstsein ausstreckte, fühlte es sich an wie Wasser, das durch gespreizte Finger rinnt. Als wären die Strömungen seines Geistes zu fein, um sich in ihrem Netz zu verfangen.
Dabei konnte sie sonst jeden Menschen manipulieren. Und nicht nur Menschen, auch Schattenläufer. Bei seinem Halbbruder Kain hatte es funktioniert, in jener Nacht, in der Mordechai den Engel erweckt und sie beinahe umgebracht hatte. Auch wenn sie die Gabe instinktiv eingesetzt hatte, ohne zu wissen, was sie eigentlich tat. Sein Halbbruder Kain, rasend vor Blutgier, hatte Alan töten wollen. Und sie hatte seinen Willen verbogen. Nur um eine Winzigkeit, doch genug, um seine Sehnsüchte über seine Zerstörungswut triumphieren zu lassen und um Alans Leben zu retten.
„Ich liebe dich“, sagte sie.
Ein Lächeln flackerte über sein Antlitz und glättete die harten Linien.
Javiers Haus wirkte weniger verwahrlost als die Anwesen der Nachbarn. Der Rasen leuchtete grün, und um die Pfosten der Terrasse wucherten Bougainvilleen.
Alan folgte Eve mit langsamen Schritten. Er wirkte nervös und angespannt, doch sie hütete sich, etwas zu sagen. Sie konnte kaum glauben, dass er doch noch mit ihr gekommen war. Dass er der Begegnung mit Javier mit gemischten Gefühlen entgegensah, war ihm nicht zu verdenken.
Aus dem Inneren des Hauses drangen Geschirrklappern und Hundegebell, dann öffnete sich die Tür einen Spalt.
„Guten Tag. Ich bin Eve Hess.“ Sie setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf. „Wir haben telefoniert.“
Die Tür schlug wieder zu, jemand löste die Kette. Nach ein paar Herzschlägen schwang sie ganz auf, in eine dämmrige Diele. Ein Mann trat ihnen entgegen, klein und drahtig und unrasiert. Pechschwarze Locken waren zu einem fettigen Zopf gebunden. Sie ergriff Javiers ledrige Hand. Sein Händedruck war fest und kühl.
„Gehört er zu Ihnen?“ Javier deutete mit dem Kopf über ihre Schulter hinweg auf Alan.
„Das ist Alan.“ Sie zögerte einen Moment. „Er hilft mir bei den Ermittlungen.“
„Aber ein Cop ist er nicht?“
„Kein Cop“, sagte Alan hinter ihr. „Dürfen wir reinkommen?“
Javier führte sie in ein kleines Wohnzimmer, das vollgestopft war mit Plüschmöbeln, Plastiknippes und einem übergroßen Fernseher. Aus der Küche
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