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Übersinnlich

Übersinnlich

Titel: Übersinnlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Dirks
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drang der Geruch von gekochtem Gemüse. Eine Frau lamentierte auf Spanisch. Eine Sekunde später brüllte ein Baby los.
    „Tut mir leid.“ Javier nuschelte und zog die Silben zusammen. „Die Kleine kriegt gerade Zähne.“
    Javiers Frau servierte Kaffee in Tassen mit Goldrand und zog sich wortlos zurück in die Küche. Marty, Javiers geschäftstüchtiger Sohn, tauchte kurz auf und grinste Eve an, verzog sich aber, als sein Vater ihm einen scharfen Blick zuwarf. Ob Javier von den Straßengeschäften seines Juniors wusste? Irgendwie bezweifelte sie es.
    „Die Cops richten sowieso nichts aus“, brummte Javier. „Wollen Sie wissen, was die alten Weiber tratschen? Dass Mariposa sie frisst. Die, deren Glaube nicht stark genug ist.“
    „Ich dachte, Mariposa ist eine Legende?“
    „Ist sie auch.“ Der Mann zündete sich eine Zigarette an. „Was dagegen, wenn ich rauche?“ Er inhalierte tief und stieß langsam den Rauch aus. „Ich glaube dieses religiöse Gewäsch eigentlich nicht, aber die Morde werden langsam unheimlich. Und die Cops haben keine Ahnung, wonach sie suchen sollen. Niemand hat die leiseste Ahnung. Stattdessen bauen wir Altäre unter der Erde.“
    „Sie meinen den großen Santa Muerte Schrein?“
    „Santa Muerte?“ Er winkte ab. „Nein, ich meine den für Mariposa in den St. Johns Katakomben. Wissen Sie, was ich denke? Die Morde gehen auf das Konto irgendwelcher bescheuerten Kids, die sich einbilden, sie müssten der dunklen Schwester Opfer bringen. So was hat’s schon gegeben, unten in San Salvador. Aber das können unsere guten amerikanischen Cops natürlich nicht wissen.“ Mit einem Ruck drehte er den Kopf und starrte an Eve vorbei in Alans Gesicht. „Ich frage mich schon die ganze Zeit“, knurrte er, „woher ich dich kenne.“
    Das plötzliche Schweigen war wie ein unsichtbares Netz aus Stahlfäden, das sich straff in der Luft spannte. Eve stellte ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Das Klappern klang überlaut in die Stille.
    „Du bist kein Reporter.“ Javier beugte sich über den Tisch. „Ich habe recht, oder? Wir haben uns schon mal getroffen.“
    Unwillkürlich tastete sie nach Javiers Geist. Sie musste zuerst ein Gefühl für den Mann entwickeln, musste verstehen, was er wollte. Was er wirklich wollte. Es war nicht so, dass sie ihm einfach eine Idee einpflanzen konnte oder ihn kontrollieren wie eine Marionette. Nein, es war eher wie ein Windstoß, der subtil die Richtung korrigierte. Ein Windstoß, der vor einer Gabelung entscheidend sein konnte. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Begegnung, die sie selbst eingefädelt hatte, aus dem Ruder lief.
    „In der Tat, wir haben uns schon mal getroffen.“ Alans Worte waren wie Steine, die in einen dunklen Teich fallen. Sie ließen Eve frösteln, obwohl es warm war. Die Geschichte mit Marty war einer der Abgründe in seiner Seele, in die er selbst sie nicht hinabblicken ließ. „An einem Tacostand zwei Blocks von hier. Mit einem Memorialgraffiti an der Wand, für ein paar Kinder, die mit Pistolen in den Händen starben, weil sie dachten, das wird von ihnen erwartet.“
    Javiers Gesicht verhärtete sich. Die Spannung wurde so unerträglich, dass Eve kaum zu atmen wagte. Sie glitt an den Rändern von Javiers Bewusstsein entlang.
    „Ich wusste, dass ich dich kenne.“ Der Mann begann zu zittern. „Was denkst du dir, hier aufzutauchen?“
    „Ich sehe ihn jede Nacht.“ Alans Stimme klang flach. „Wenn ich einschlafe, wartet er schon auf mich. Im Traum biege ich um die Ecke und dort steht er vor der Graffitiwand, mit der roten Bandana und einem 45er Colt, der viel zu klobig für seine Hände ist. Ich habe Karten für’s Dodgers-Spiel. Aber er lacht und sagt, er hätte schon was anderes vor.“
    Eve starrte Javier an, der sie gar nicht mehr wahrzunehmen schien. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Sie suchte nach dem, was hinter seinem Schmerz lag, hinter der Mauer aus Groll und Bitterkeit und hasserfüllter Wut, die sich jeden Moment Bahn brechen wollte. Schuld … und noch mehr Schuldgefühle.
    Ihr Blick glitt zu Alan, sein Antlitz eine Maske aus Stein. Es täuschte sie nicht über die Wunde hinweg, die sich dahinter verbarg. Eine tiefe Kluft, die nicht heilen wollte. Einen furchtbaren Moment lang fragte sie sich, ob sie sich verkalkuliert hatte in ihrem Bedürfnis, die Verletzung zu heilen. Die Schuld fraß ihn auf, sie spürte, wie er litt, und wollte sich mit ihm zusammenkrümmen. Doch hier war die Chance, es zu

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