Übersinnlich
„Aber es ist keiner vom Blut. Es fühlt sich anders an.“
Auf dem Boden vor dem Altar standen fünf Tassen. Eve suchte sich einen Weg durch die Kerzen und ging in die Knie, um sie genauer zu betrachten. Eine gelbe Plastiktasse mit Mickey-Maus-Aufkleber war umgefallen. Dunkle Flüssigkeit glänzte auf den Steinen. Sie tauchte eine Fingerspitze hinein, roch daran und musste würgen.
„Blut“, stieß sie hervor. „Das ist Blut in den Tassen!“
„Die Leute bringen Mariposa ein Opfer“, sagte Javier. „Sie geben ihr Blut, damit sie ihren Wunsch erfüllt.“
Angeekelt wich Eve zurück. „Und was passiert mit dem Blut?“
„Sie trinkt es.“ Javier bleckte die Zähne. „Und wenn es nicht genug war, holt sie sich, was ihr zusteht. Sagen die Klatschweiber auf der Straße.“
„Hat jemand diese – dieses Ding gesehen?“
„Hier ist etwas“, wiederholte Alan.
Sie dachte an die Blutnacht, deren Drahtzieher nun vor Gericht standen. Die mutierten Bestien, die die Stadt verwüstet und Hunderte von Menschen getötet hatten, waren Hunde gewesen, die von den Etherlight-Fanatikern erst mit einem Pestizid vergiftet und dann mit dem Blut von Schattenläufern gefüttert worden waren. Was, wenn eine der monströsen Kreaturen den Suchtrupps durch die Lappen gegangen war und sich jetzt in den Kanälen versteckte?
„Sie sagen, sie hätten eine Frau gesehen.“ Javiers Nervosität schien mit jeder Minute anzuwachsen. „Eine schwarze Madonna mit kobaltblauen Augen.“
„Eine schwarze Madonna? Was heißt das genau? Mit schwarzer Haut? Schwarzen Haaren?“
„Keine Ahnung.“
Sie umrundete das Kerzenfeld und trat in den Durchgang auf der anderen Seite. Der Gestank nach verwesendem Fleisch wurde so stark, dass ihr Galle in die Kehle stieg. „Bringen Sie mal die Taschenlampe.“
Javier gehorchte.
Das Licht enthüllte eine Blutpfütze. Eine Spur aus Tropfen zog sich die Stufen hinauf. „Das ist noch frisch“, wisperte sie.
Alan berührte sie an der Schulter. „Gib mir die Pistole.“
Der einsame Jäger in ihr wollte ihm widersprechen, doch sein Gesichtsausdruck ließ sie verstummen. Schweigend reichte sie ihm die Beretta. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, mit einem quasi unsterblichen Krieger zusammenzuleben, der auch noch über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt verfügte.
„Ich gehe voran, ihr bleibt hinter mir“, sagte er. „Wenn etwas passiert, bleibt ihr zurück. Okay?“
Sie nickte.
Seine Anspannung jagte ihr mehr Furcht ein als die gruselige Kammer und Javiers Andeutungen. Während sie Schritt für Schritt die schwarze Treppe hochstiegen, bildete sie sich ein, Schritte zu vernehmen, gerade an der Grenze der Hörbarkeit. Was, wenn die Bedrohung nicht vor ihnen wartete, sondern ihnen nachschlich? Schnell blickte sie über die Schulter, doch sah nur die Aura der Kerzen.
Eine Bewegung wie flimmernde Luft wischte durch ihren Augenwinkel und war wieder verschwunden. Javiers kleine Taschenlampe erzeugte kaum genug Licht, um Alans Rücken aus der Finsternis zu heben. Der Gestank wurde schlimmer.
Engelsdämmerung,
ISBN: 978-3-941547-39-1
Und wieder die Schritte, aber nun ein rhythmisches Klacken, wie Krallen auf Stein. Ihr brach der Schweiß aus. Sie wollte Alan zurufen, er solle aufpassen, aber wagte nicht, die Stille zu durchbrechen. Seine Sinne waren viel schärfer als ihre. Wenn dort etwas war, hatte er es längst bemerkt.
Doch plötzlich rammte eine unsichtbare Kraft Alan mit solcher Wucht, dass er rücklings gegen sie geschleudert wurde. Sie verlor den Halt und stürzte, versuchte, ihren Kopf zu schützen. Schmerz schoss ihr ins Knie. Javier neben ihr brüllte etwas Unverständliches. In sein Geschrei mischte sich ein tiefes Knurren, das urtümliches Entsetzen in ihr aufriss. Die Taschenlampe erlosch. Ein Schuss brach sich an den Wänden.
Sie quälte sich auf die Beine, ihr Kopf ein Mahlstrom. Noch mehr Schüsse, dicht neben ihr. Korditgestank brannte ihr in der Nase, ihre Ohren klingelten, sie hörte Kampfgeräusche und Alans Stimme, aber konnte die Worte nicht verstehen. Ein dumpfer Schlag, ein Schrei, der Boden vibrierte. Sie spürte förmlich, wie sich Risse unter ihren Füßen bildeten, tastete nach einem Halt, ihre Finger fassten in etwas Klebriges. Dann traf sie ein Hieb gegen die Brust und schleuderte sie rücklings gegen die Wand. Für eine Sekunde glaubte sie, dass der Aufprall ihr alle Knochen zerschmettert hatte. Etwas Fremdartiges streifte ihren Geist, vor dem
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