überSINNLICHE Nächte - überSINNLICHE Nächte - Wild Nights
Grunde nur ein anderer Name für Halloween. Laut Anton ist in dieser Nacht der Vorhang zwischen den Lebenden und den Toten weit genug geöffnet. Die Zeitspanne reicht jedoch nur von Mitternacht bis Sonnenaufgang. Anton glaubt, er kann in dieser kurzen Spanne mit deiner Mutter Kontakt aufnehmen. Aber es geht nur, wenn wir alle dort sind und sie gemeinsam rufen.«
Ulrich blickte Luc direkt an, während er sprach, obwohl seine Worte ausdrücklich an Tia gerichtet waren. Luc spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken rann. In der Stimme des alten Mannes lag etwas unglaublich Intensives.
»Wir drei sind die Menschen, die deiner Mutter das Meiste bedeutet haben. Ich war ihr Ehemann.« Er strich Tias Haar aus ihrem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Du bist ihr einziges Kind.«
Dann wandte er sich erneut an Luc. »Und du, Lucien, bist der Mann, der ihrem Leben ein Ende setzte. Nein. Sieh mich nicht so an. Camille hat es sich selbst zuzuschreiben. Ihre Taten und nicht deine haben zu ihrem Tod geführt. Es war nicht dein Fehler. Dennoch verbinden wir alle mit Camilles Tod einen schweren Verlust. Manchmal glaube ich, dass du sogar mehr verloren hast als Tia und ich, Luc. Du hast deine Unschuld verloren, deine Selbstsicherheit. Ich hoffe aber, durch die Offenbarung deines Chankuerbes bist du in gewissem Sinne für den Verlust entschädigt worden.«
Luc sank auf die Couch. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er fuhr mit den Händen über seine Augen, als könne er mit dieser Bewegung die Erinnerung an die atemberaubend schöne Wölfin vertreiben, die ihn über das frisch gemähte Gras hinweg angestarrt hatte. Als könne er die hellrote Blume aus Blut vergessen, als seine Kugel in die Schulter des Tiers eindrang. Oder den gekrümmten Leichnam einer schönen Frau, die vor ihm auf dem Boden lag.
Luc hob den Kopf und blickte in Tias Augen. Er erwartete, Verachtung darin zu sehen. Und fand doch nur Liebe. An ihren Vater gewandt fragte sie, ohne den Blick von Luc zu lassen: »Wann fahren wir, Dad?«
Ulrich räusperte sich. »Wir fahren morgen. Anton schickt uns seinen Privatjet. Er braucht ein paar Tage, um sich darauf vorzubereiten, und es ist ihm lieber, wenn wir dann in der Nähe sind. Er sagt, er hat sowas noch nie versucht.« Ulrichs Stimme brach. Er hustete und seufzte dann schwer. »Ich danke euch beiden. Ob wir nun Erfolg haben werden oder nicht, uns wird wenigstens das Wissen bleiben, es versucht zu haben.«
Tinker gesellte sich in dieser Nacht nicht zu ihnen. Tia hörte, wie sich die Tür zu seinem Apartment am anderen Ende des Flurs öffnete und wieder schloss. Sie hörte auch Miks und AJs Lachen. Offenbar hatten die drei Männer sich dazu entschlossen, die Nacht gemeinsam zu verbringen. Tia lag mit Luc allein in dem großen Bett. Sie war froh, dass in dieser Nacht nur ihr Seelengefährte bei ihr war.
Sie hatte den Schmerz ihres Vaters, wenn auch nur einen Moment lang, allzu deutlich gespürt. Dann hatte er den Schmerz vor ihr abgeschirmt, um das Schlimmste vor seinem einzigen Kind zu verbergen. Tia war schockiert gewesen: von seiner Wut und von dem Zorn, den er nach all den Jahren noch immer in seinem Herzen mit sich herumtrug. Er vermisste seine Frau schrecklich, und er liebte sie noch immer. Aber er hatte Camille bis heute nicht vergeben, weil sie diese dumme Entscheidung getroffen hatte, bei Tageslicht als Chanku herumzulaufen. Bei Tageslicht war das Risiko, entdeckt zu werden, zu groß.
Ulrich hatte es Tia bisher nie gestattet, so tief zu seinen wahren Gefühlen vorzudringen. Er sprach von Tias Mutter immer voller Liebe und Verehrung. Zum ersten Mal hatte sie die Wut gespürt, die direkt unter der sonst so ruhigen Oberfläche ihres Vaters köchelte.
Er hatte diese Wut in den letzten zwanzig Jahren mit sich herumgetragen. Hatte sie in sich köcheln und gären lassen, während er zugleich nur liebevoll und warm von Camille sprach. Tia lag wach und dachte über ihre eigenen Gefühle nach. Ja, sie vermisste ihre Mutter. Sie vermisste die Umarmungen, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, vermisste die Gutenachtgeschichten, die ihre Kindheit prägten. Vermisste das herzliche Lächeln und die bedingungslose Liebe, die nur eine Mutter geben konnte.
Aber erinnerte sie sich überhaupt noch an diese Liebe? So vieles in Tias Kindheit blieb in der Erinnerung leer. Dort, wo die guten Gefühle liegen sollten, klaffte eine große Lücke.
Ihre Erinnerungen, diese kleinen Vignetten, an die sie so gerne
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