Uferwald
einer knappen halben Stunde abgeholt hatte.
Er schaltete das Oberlicht ein. Eine Schlafcouch mit einer rotweiß gemusterten indianischen Decke darüber. Ein Schwarzweißposter zeigte einen abgerissenen zahnlosen alten Mann. Ein Clochard? Aber einer mit einem Schreibblock in der Hand. Der Schreibtisch. Das Radio, das noch immer lief. Fast körperlich spürte Kuttler Unbehagen. Schlimm war nicht der Geruch. Er hatte das Gefühl, dieses Zimmer erwarte jeden Augenblickdie Rückkehr des rechtmäßigen Bewohners, als sei dieser nur eben Zigaretten holen gegangen.
Noch immer blinkte der Anrufbeantworter. Er ging zum Schreibtisch und drückte auf die Abspieltaste.
»Sie haben eine neue Nachricht«, sagte die Telekom-Stimme. Dann eine zweite Stimme, die einer Frau, mit einer kaum merklichen schwäbischen Tonfärbung:
»Guten Tag Frau Gossler, hier spricht die Isolde Scheuch, vielleicht erinnern Sie sich an mich. Ich wollte Sie fragen, ob ich Sie einmal besuchen darf. Rufen Sie mich doch einfach an. Ach – ich heiße jetzt Treutlein...« Sie nannte ihre Telefonnummer.
Kuttler notierte sich den Namen. Dann sah er das gerahmte Foto, das mit der Rückseite nach oben auf dem Schreibtisch lag, und drehte es um, das Foto war die Vergrößerung eines Schnappschusses und zeigte den jungen Mann aus dem Fotoalbum, aber rechts unten war ein Trauerband eingelegt, ein schräger schwarzer Balken. Kuttler wandte sich vom Schreibtisch ab und musterte das Bücherregal. Ein dicker roter Kunststoffband sprang ihm ins Auge – der Schönfelder, die Gesetzessammlung, mit der – unter den Arm geklemmt – Juristen so gerne spazieren gehen. Daneben entdeckte er juristische Fachliteratur, genauer: Lehrbücher. Ein Jurastudent? Der deutlich größere Teil der Bücher schien aber aus Romanen, Erzählungen und Gedichtbänden zu bestehen. Wenn er das alles wirklich hat lesen wollen, hat er nicht viel studiert, dachte sich Kuttler und bückte sich über ein Buch im Taschenformat, altmodisch in Leinen gebunden, das auf einem kleinen Wandbrett am Kopfende der Schlafcouch lag, und entzifferte den Titel: »Hunger« von Knut Hamsun.
Er wandte sich ab und wäre beinahe über ein weiteres Buch gestolpert, das aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben, auf dem Boden lag. Er bückte sich und hob es auf. Der Band hatte dazu gedient, den einen Fensterflügel festzuhalten, war dann aber heruntergeweht worden. Auf dem grünen Umschlag mitdem Titel: »Materialien zur Tradition der sozialistischen deutschen Literatur« war von der Fensterkante ein schwärzlich verfärbtes Dreieck eingedrückt worden. Kuttler schlug das Buch auf, aber die Seiten waren leer. Er schüttelte den Kopf und blätterte weiter, plötzlich erschienen Seiten, die beschrieben waren, von Hand beschrieben, die Handschrift war flüchtig, stark rechts geneigt, aber einigermaßen leserlich. Ein Tagebuch? Kuttler blätterte bis zur ersten Seite und wollte zu lesen beginnen.
In diesem Augenblick schlug die Türglocke an.
D ie Büros der Vorstandsetage der Gemeinnützigen Heimstätten sind geräumig, aber nicht zu aufwendig möbliert, und das Dienstzimmer der Assistentin der Geschäftsführung ist in Größe und Ausstattung noch um ein Geringes – aber doch erkennbar – kleiner als die Büros der beiden Geschäftsführer. Vor allem aber besitzt es ein Panoramafenster, von dem aus man auf die mächtige Turmhaube der Wiblinger Klosterkirche sieht, die dort thront wie ein Dreispitz auf dem Kopf eines oberschwäbischen Kirchenfürsten.
In ihrem Blickfeld hatte Luzie Haltermann an diesem Nachmittag einen Karton voll unerledigter Vorgänge. Er stand auf ihrem Schreibtisch, und darin stapelten sich Briefe, Mahnungen, Beschwerden, Kostenvoranschläge, ein ganzes Archiv der Überforderung und Indolenz, darunter sogar eine Anfrage aus dem Gemeinderat, warum der Frauentreff im Sozialzentrum Buchenbronn seit Monaten leer stehe. Einen der Briefe hatte Luzie herausgenommen und vor sich auf die Schreibtischmatte gelegt. Der Brief war auf kariertem Papier geschrieben, in einer adretten runden Kinderhandschrift, und lautete:
»Sehr geehrter Herr Hausverwaltung! Die Frau Gossler aus dem vierten Stock habe ich nicht mehr gesehen seit Wochen. Bitte wollen Sie Euer Hausmeister schicken nachsehen das ihr nichts passiert ist sie ist viel krank und traurig. Das Haus ist Herwegh- Strasse 5.«
Darunter stand, in einer anderen, krakeligen Schrift, der Name Murad Inönü.
Für einen Augenblick überlegte Luzie, ob
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