Uferwechsel
sterbenselend wird?«
»Mach dich nur lustig über mich!« Eingeschnappt trank ich einen Schluck Tee.
War Manju vor zwei Jahren noch ein verhuschtes Mädchen gewesen, das meine Mutter aus der alten Heimat zu sich geholt hatte, weil sie dringend eine billige Aushilfe für den Laden und noch dringender eine zukünftige Ehefrau für mich gebraucht hatte, so hatte sie sich in der Zwischenzeit zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt. Sie hatte nicht nur eigenständig einen branchenüblichen Lohn ausgehandelt, den ihr meine Mutter zähneknirschend auszahlte, sondern – für mich unverständlich – auch kaum auf mein Werben reagiert. Und doch knisterte die Luft, wenn wir uns sahen. Zumindest hatte ich das Gefühl.
»Ach Vijay, das war doch nur Spaß. Lad mich mal ein, und ich werde dir verraten, was ich von deinen geheimen Delikatessen halte.« Sie zwinkerte mir nochmals zu und ließ mich allein am Tisch zurück.
Beinahe wäre sie mit einer der umständlichen Damen zusammengestoßen, die sich, in dicke Wintermäntel vermummt, an uns vorbei zum Ausgang drängten. Sie sahen aus, wie man sich wohl ein Rudel sibirischer Tarotlegerinnen vorstellte.
»Ich schaff dieses Tittibhasana einfach nicht!«, jammerte eine der Turbanträgerinnen. Sie hatte sich ein Bindi auf die Stirn gemalt, den traditionellen roten Punkt, der auch ›das dritte Auge‹ genannt wurde. »Letztes Mal habe ich das Gleichgewicht verloren und brauchte die Hilfe beider Lehrer, um mich wieder zu entknoten.«
»O je, die Firefly-Pose, das Glühwürmchen. Da musst du dich voll auf dein Mula-Bandha konzentrieren, sonst geht gar nichts«, hielt eine ihrer Freundinnen entgegen.
»Ha, mein Beckenboden! Wenn sich bloß Klaus ein bisschen mehr damit beschäftigen würde …«, seufzte die mit dem Bindi und rollte die Augen. Beide Frauen kicherten anzüglich, worauf sich neugierig eine dritte einmischte: »Wovon redet ihr?«
»Mein Gott, Marieclaire, was verstehst denn du schon von Yoga. Bleib bloß bei deinem Pilates!«
Wieder zu Hause, schenkte ich mir einen gut gemeinten Amrut ein, dann drehte ich meinen Stuhl zum Fenster und blickte hinaus.
Erste Schatten lagen auf der Dienerstrasse, der Schnee wirkte jetzt grau und schlierig. Immer noch durchkreuzten Kondensstreifen den dunkelrosa gefärbten Himmel. Da oben herrschte ein Verkehrsaufkommen wie freitags um siebzehn Uhr vor dem Gubristtunnel. Deswegen führten Flughafenanrainer wegen der entstehenden Lärmemissionen auch seit Jahren eine hitzige Debatte, die sich bis nach Süddeutschland ausgeweitet hatte. Ich vertrat die Meinung: Wer einen Metzgerteller bestellt, bekommt automatisch auch Sauerkraut. Anstatt hinterher zu jammern, lohnt es sich auf jeden Fall, erst mal auf die Karte zu gucken. Dasselbe galt bei der Wahl des Wohnorts.
Mit einem Mal erinnerte ich mich vage an einen Zeitungsbericht, den ich vor längerer Zeit in einem ähnlichen Zusammenhang gelesen hatte. Schwungvoll drehte ich mich samt Stuhl hinter den Schreibtisch zurück und weckte mein brandneues MacBook Pro , das ich mir von meinem letzten Honorar geleistet hatte, aus dem Stand-by-Modus. Eine Suchanfrage später hatte ich den gesuchten Artikel vom Frühling des letzten Jahres auf dem Bildschirm. Mit angehaltenem Atem starrte ich darauf und spürte nur noch mein Herz, das kräftig und regelmäßig schlug.
Der Bericht über den Toten, den man damals in der Nähe des Flughafens gefunden hatte, war kurz gehalten und mit Vermutungen gespickt, doch die Parallelen zum heutigen Leichenfund waren nicht von der Hand zu weisen. Seine Kleidung, der malträtierte Körper, die abgebrochenen Zweigspitzen – für all das gab es eine plausible Erklärung. Ich fragte mich nur, weshalb niemand darauf gekommen war.
Rasch verschaffte ich mir eine Luftansicht von Zumikon und der umliegenden Gegend. Einige Klicks später wusste ich auch, dass wegen des Schneesturms der Flughafen Zürich heute Morgen bis um neun Uhr geschlossen gewesen war. Damit wurde mir schlagartig klar, weshalb das Offensichtliche niemand gesehen hatte!
Wie elektrisiert sprang ich auf, schlüpfte in meine Schuhe und riss beim Hinausstürmen die Winterjacke vom Haken. Kurz nach vier. Wenn ich mich beeilte, würde ich ihn gerade noch erwischen.
Die Staatsanwaltschaft IV befand sich nur wenige Gehminuten entfernt an der Molkenstrasse. Der etwas zurückversetzte Eingang des länglichen fünfstöckigen Gebäudes aus den Achtzigerjahren lag direkt am Helvetiaplatz. Die Fassade
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