Uferwechsel
Verletzungen im Gesicht des Jungen erklärt. Das sah aus, als hätte jemand in blinder Wut mit einem Baseballschläger darauf eingeprügelt.
Ich fragte mich jedes Mal, wenn ich von solchen Fällen las, was für Menschen das waren, was für ein Leben sie wohl führen mochten, mit wem sie zusammen waren. Was brauchte es, um solchen Hass zu empfinden? Was musste in so einem Leben schiefgelaufen sein, damit man auf einen anderen derart eindrosch, dass er daran starb?
Natürlich gab es keine befriedigenden Antworten darauf. In den Interviews mit Tätern, die ich gelesen hatte, zeigten viele keine Reue. Als würden sich diese jungen Menschen in einer Parallelwelt bewegen, in der es keine Moral, keine Verantwortung und auch keine Konsequenzen gab, als würde einen dort nichts tangieren und man notfalls mit einem Tastendruck ungeschehen machen könnte, was aus dem Ruder gelaufen war.
Manchmal machte mich das richtig wütend. An Tagen wie heute, an denen ich mich müde und ausgelaugt fühlte, verspürte ich nur Abscheu und Beklemmung.
Das Aroma der laborerzeugten Wildkirschen hatte sich längst verflüchtigt, trotzdem bearbeitete ich meinen Kaugummi, der sich in Konsistenz und Geschmack allmählich Fensterkitt annäherte, unermüdlich weiter. Das Knurren meines Magens ließ mich in meine selten benutzte Küche hinübergehen, wo ich den Kühlschrank durchsuchte, außer einer fleckigen Tube Tomatenmark und ein paar Dosen Bier jedoch nichts Verwertbares fand. In den Schränken über der Spüle brauchte ich gar nicht erst nachzugucken, ich wusste, dass sie leer waren bis auf Geschirr aus dem Brockenhaus sowie einer Auswahl edler Whiskygläser, die ich vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Immerhin fand sich eine Büchse Sardinen und eine angefangene Packung Spaghetti in einem Fach unter der Anrichte, doch der Blick auf das Verfallsdatum der Fischkonserve ließ mich sogleich nostalgisch werden. Das war die Zeit gewesen, als die Twin Towers noch standen, RTL auf die famose Idee kam, bescheuerte Mitmenschen in Container zu sperren und rund um die Uhr beim Bescheuertsein zu filmen, Lolo Ferrari unter ihren gewaltigen Silikonbrüsten erstickte und im Kino ein kleiner Junge mit sechstem Sinn tote Leute sah. Es war auch die Zeit gewesen, als ich noch allen Ernstes eine akademische Laufbahn in Betracht gezogen und nicht weniger ernsthaft auf die einzig wahre Liebe im Leben gehofft hatte, während ich mir das Warten mit Corinne, Susanne und Regula versüßte.
Verträumt strich ich mit dem Finger über die Sardinendose, doch ein unangenehmes Rumpeln im Magen katapultierte mich in die Gegenwart zurück. Der Deckel der Konserve war verdächtig gewölbt und etwas wehmütig schmiss ich sie in den Abfall.
Die Idee, wie damals in den Wohngemeinschaften Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen, verwarf ich auf der Stelle und schlüpfte stattdessen in meine Winterjacke. Glücklicherweise gab es kulinarisch verlockendere Möglichkeiten, um mich vor dem Verhungern zu bewahren.
Der Hähnchenschenkel war, wie er sein musste: außen kross und stellenweise sogar leicht verkohlt, innen saftig. Ich mochte den dezenten Zitronengeschmack, das leicht rauchige Aroma, die säuerliche Frische des Joghurts und die milde Schärfe, die sich erst allmählich im Mund ausbreitete. Wenn jemand die perfekte Tandoorimarinade hinkriegte, dann war das meine Mutter.
»Lecker!«, schmatzte ich begeistert und beugte mich wieder über den üppig gefüllten Teller, den sie mir hingestellt hatte. Seit ich nicht mehr rauchte, eröffneten mir meine Geschmacksknospen in lukullischer Hinsicht ganz neue Welten. Früher war Essen eine fürs Überleben unverzichtbare Notwendigkeit gewesen, die ich hastig hinter mich gebracht und oft sogar zugunsten von ein paar Gläsern Amrut ausgelassen hatte.
Doch seit ich auf Zigaretten verzichtete, lernte ich den vielschichtigen Geschmack nicht nur der indischen Küche neu schätzen: Die einst simple Nahrungsaufnahme war für mich zum lustvollen Genuss geworden. Was sich leider auch im Gürtelbereich abzuzeichnen begann.
Nebst dem Hähnchenschenkel aus dem Ofen, den ich schon fast vertilgt hatte, hatte mir meine Mutter eine stattliche Portion Pilaw aufgeladen, mit Kardamom und Zimt gewürzten Reis, kombiniert mit zarten Lammstückchen, daneben einen großen Löffel des traditionellen indischen Linsengerichts Daal und einen grellgrünen Klacks des unvermeidlichen Minzchutneys. Auf einem zweiten Teller türmten sich hauchdünne
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