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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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auf, als ich bemerkte, dass mich Dr. Tobler fixierte.
    »Ich warte!«, knurrte er.
    »Ich vermute, der Mann ist kein Opfer eines Gewaltverbrechens. Aber dazu muss ich etwas ausholen: Wegen dem Schneesturm heute Morgen war der Flughafen geschlossen. Er öffnete erst …«
    »Kumar, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit! Kommen Sie zum Punkt!« Dr. Tobler hatte sich nicht gesetzt und tigerte in seinem Büro auf und ab.
    »Bis um neun Uhr konnten Flugzeuge weder landen noch starten.«
    »Was hat das verdammt noch mal mit dem Toten zu tun?« Dr. Tobler war am Fenster stehen geblieben und blickte mich ungeduldig an.
    Ich ließ mich nicht einschüchtern. »Das Waldstück bei Zumikon liegt genau in der Anflugschneise. Auf der Piste Nummer vierunddreißig landen vor allem die Morgenflüge, meist kommen sie von Langstreckendestinationen wie Hongkong, Montreal, Delhi, Bangkok … aber das nur am Rande.«
    Dr. Tobler schnaubte, doch ich überhörte es geflissentlich.
    »Über dem Fundort der Leiche waren einige Zweigspitzen und ein Ast abgebrochen …«
    »Das haben Sie bereits erwähnt!«, unterbrach mich Dr. Tobler erneut.
    Ich hob beschwichtigend die Hand. »Der Mann hatte meines Wissens keinen Ausweis bei sich. Und auch sonst nichts, was geholfen hätte, ihn zu identifizieren. Das legt den Schluss nahe, dass er aus dem Flugzeug gefallen ist.«
    Mit einem schnellen Schritt trat Dr. Tobler an den Schreibtisch und ergriff seinen Mantel. »Ich hätte es wissen müssen, Kumar, Sie verschwenden nur meine Zeit!« Er ging an mir vorbei und riss die Tür auf. Dann drehte er sich um und sah mich auffordernd an. Ich rührte mich nicht vom Fleck und hielt seinem Blick stand.
    »Wie es scheint, verstehen Sie nicht, was ich Ihnen mitteilen will, Dr. Tobler«, sagte ich nachdrücklich. »Meiner Meinung nach ist der Junge ein Flüchtling, der illegal ins Land gelangen wollte. Er hat sich in seiner Heimat im Fahrwerkkasten eines Flugzeugs versteckt. In manchen Ländern werden noch nicht derart strenge Sicherheitskontrollen durchgeführt wie hier. Dadurch hat es der junge Mann geschafft, unentdeckt zur Maschine zu gelangen. Solche verzweifelten Fluchtversuche gibt es immer wieder, den letzten hatten wir hier im April letztes Jahr. In den wenigsten Fällen überleben die Fliehenden. Entweder sie werden vom einfahrenden Fahrwerk erdrückt, sie sterben an Sauerstoffmangel auf zehntausend Metern Höhe oder erfrieren. Die Temperaturen sinken bis auf minus sechzig Grad. Und dann stürzen sie vom Himmel, wenn das Fahrwerk wieder ausgefahren wird. Sie erreichen dabei eine Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern und brechen beim Fall Zweige und Äste von Bäumen ab. Am Boden werden sie dann regelrecht zerschmettert, was auf den ersten Blick aussieht, als wären sie mit Schlagwerkzeugen verletzt worden. Ihr Toter ist kein Opfer eines Gewaltverbrechens, er ist ein gescheiterter Flüchtling.«
    Geräuschlos hatte Dr. Tobler die Tür wieder geschlossen, während ich meinen Monolog heruntergeleiert hatte, jetzt trat er nah an mich heran. Obwohl wir etwa gleich groß waren, hatte ich das Gefühl, er blicke auf mich herunter. »Das ist kompletter Schwachsinn, Kumar. Wie erklären Sie sich dann zum Beispiel das auffällig bedruckte T-Shirt? Stammt das etwa aus einem Drittweltland?«
    Auch darauf hatte ich eine Antwort parat: »Das ist eines dieser schrecklichen T-Shirts von Ed Hardy. So was ziehen hier wirklich nur noch Leute an, die im Verhüllen von nackter Haut den einzigen Zweck von Kleidung sehen. Von Mode oder Trends haben die keine Ahnung …«
    »Also mit Verlaub, aber Sie tragen ja auch nicht gerade das, was man den letzten Schrei nennt.« Frank R. Tobler musterte despektierlich meine ausgebeulte Jeans und den verwaschenen Pullover unter meiner Winterjacke. Letztere hatte ich preiswert im Rabatt gekauft, einem Designeroutlet in der Nähe des Stauffachers. Wenigstens daran gab es nichts auszusetzen.
    »Meine Freunde nennen das Stil«, erwiderte ich trotzig.
    »Ihre Freunde sind etwas fahrlässig in der Wortwahl.«
    »Solche T-Shirts werden andauernd in Kleidersammelstellen der Caritas oder bei der Heilsarmee abgegeben. Und so gelangen sie dann in Drittweltländer, wo die Menschen zusätzlich zu Hunger und widrigen Lebensumständen auch noch mit geschmackloser Mode gequält werden. Das wäre auch eine Erklärung, weshalb der Tote trotz der Kälte nur das Sommerleibchen und keine Jacke trägt.«
    Dr. Tobler schüttelte stur den Kopf. »Ihre

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