Ulysses Moore 6: Der erste Schlüssel (German Edition)
zu entspannen. Falls es überhaupt möglich war, sich in einem Haus zu entspannen, das so groß und gemütlich wie eine Kaserne war und das er ganz allein bewohnte. Schon der Gedanke an all die Zimmer mit den heruntergelassenen Rollläden, in denen das Echo seiner Schritte widerhallte, und an das Kreischen und Stöhnen, das die Wasserrohre von sich gaben, wenn er versuchte, eine heiße Dusche zu nehmen, verdarb ihm augenblicklich die Laune.
Sein Haus war der Grund dafür, dass sich Ursus Marriet immer wesentlich länger im Büro aufhielt, als es eigentlich nötig gewesen wäre.
Er schob den Sessel zurück und sein Blick fiel auf die unterste Schublade seines Schreibtischs. Er öffnete sie und holte die Schachtel mit dem Skarabäus auf dem Deckel hervor, in der er die beschlagnahmten Besitztümer der Zwillinge Covenant verwahrte. Mit einer eigenartigen Mischung aus Besorgnis und Neugier sah er sie durch. Ein angesengtes Foto behielt er länger in der Hand. Er fragte sich, was wohl einen Elfjährigen dazu brachte, solch ein Foto in der Tasche mit sich herumzutragen.
Es zeigte den Uhrmacher Peter Dedalus und diesen Koloss Leonard Minaxo vor dem Leuchtturm und musste vor dem Unfall aufgenommen worden sein. Viel mehr war auf dem Bild nicht zu erkennen.
»Peter und Leonard«, murmelte der Direktor vor sich hin. »Sie waren Schulfreunde, wenn mich nicht alles täuscht.«
Er hielt das Foto unter die Lampe, weil ihm ein Detail aufgefallen war. Er studierte es aufmerksam, legte das Foto dann auf den Schreibtisch und holte eine große Lupe aus einer Schublade. Langsam betrachtete er Leonard Minaxo. Sein Blick glitt vom lächelnden Gesicht des Leuchtturmwärters zu dessen Hals und den Schultern hinunter. Ursus Marriet stutzte.
Auf Leonards rechter Schulter ruhte eine Hand. Sie gehörte zu einer Person, die schräg hinter Peter Dedalus und dem Leuchtturmwärter stand.
Der Direktor nahm eine kleine Schere und eine Pinzette und glättete damit die gekräuselten Ränder des angesengten Fotos.
Langsam kam unter dem Ruß das Profil eines Mannes zum Vorschein, der kleiner als Leonard Minaxo, aber größer als Peter Dedalus war.
»Aha«, machte Ursus Marriet in Anbetracht dieser an sich nutzlosen Entdeckung. »Das also ist der dritte Herr im Bunde!«
Ihm war, als klingelte in seinem Kopf ein unsichtbares Glöckchen. Er erinnerte sich an ein anderes Foto, das er irgendwann im Laufe der letzten Jahre einmal gesehen hatte.
»Ist das möglich?«, fragte sich Mr Marriet. Er legte die Lupe auf das Foto und erhob sich aus seinem Sessel.
Er ging in den hinteren Teil des Büros und tastete nach einem Lichtschalter. Die schwache Glühbirne über dem Aktenschrank, dessen Inhalt der Direktor so gut wie seine Westentasche kannte, flackerte auf. Unentschlossen fuhr Mr Marriet mit dem Finger über die Etiketten mit den Jahreszahlen … Welche Schublade sollte er öffnen? Schließlich entschied er sich für die Jahre 1963 bis 1968, zog die Lade halb heraus, schob sie dann wieder zurück und wählte eine mit älteren Unterlagen: 1957 bis 1962.
Er griff nach den fünf Hängeregistern, deren hellblauer Karton schon ganz abgestoßen war, und trug sie zum Schreibtisch. Die Unterlagen von 1957 schienen ihm am interessantesten. Darauf standen die Namen der Schüler. Obwohl sie unterschiedlich alt gewesen waren, waren sie alle in ein und dieselbe Klasse gegangen. Die Liste war von ihrer Lehrerin angelegt und unterzeichnet worden: Miss Stella.
»Nicht totzukriegen, die alte Dame«, murmelte der Schuldirektor und rechnete nach, dass die rüstige Lehrerin schon seit weit über fünfzig Jahren im Schuldienst sein musste.
Laut las er sich die Namen aller zwölf Schüler vor: Klytämnestra Biggles (durchgefallen), 12 Jahre. Phoenix Smith, Fiona Giggs, Marc McIntire, Mary Clue, Mary-Elizabeth Forrest, Peter Sunday, 11 Jahre. Victor Vulcano, John Bowen, 10 Jahre. Leonard Minaxo, Helen Clue, 7 Jahre. Peter Dedalus, 6 Jahre.
Er behielt die Liste in der einen Hand und suchte mit der anderen nach dem Klassenfoto. Es war im Juni 1958 im Turtle Park aufgenommen worden. Miss Stella lächelte fröhlich, aber auch ein bisschen erschöpft in die Kamera. Links von ihr standen ihre zwölf Schüler in der grauen Schuluniform. Und als Letzter in der Reihe …
»Da ist er ja«, sagte der Direktor und griff wieder zur Lupe.
Der Kleinste der Klasse, der nur Peter Dedalus sein konnte, hielt die Hand des größten Mädchens: der durchgefallenen Klytämnestra Biggles.
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