Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
seine Kraft ein, um noch schneller zu laufen.
»Komm!«, rief Jason.
Und dann sprang Rick.
Die Lokomotive pfiff und die Räder schlugen auf den Gleisen Funken. Rick war, als fliege er durch die Luft. Warmer Dampf hüllte ihn ein, sodass er nichts mehr sehen konnte und …
»Ich hab dich!«, rief Jason und hielt die Hand seines Freundes fest umklammert.
Rick knallte gegen die Seite der Lokomotive und stieß sich das Knie schmerzhaft am Trittbrett, konnte aber sein Gleichgewicht wiederfinden und zog sich hoch. »Um ein Haar …«, murmelte er, als er in den Führerstand kletterte.
»Ihr zwei kommt immer zu spät«, schimpfte Black Vulcano. Er stand zwischen den zahllosen Hebeln und Knöpfen seiner ungewöhnlichen Lokomotive und drehte ihnen den Rücken zu. »Ach, die Jugend von heute!«
Rick und Jason grinsten und hockten sich erschöpft auf den Boden.
»Macht es euch bequem!«, rief Black ihnen zu, während er seine alte Lok über die Gleise lenkte, auf denen sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gefahren war. »Wenn alles gut geht, sind wir in ein paar Stunden in London!«
Einige Leute behaupteten, in jener Nacht Unglaubliches erlebt zu haben. Mrs Carton, die in der Nähe der stillgelegten Gleise von Penzance wohnte, erklärte, sie habe zuerst das Pfeifen eines Zuges gehört. Später sei dann eine Dampflokomotive ratternd und schnaufend in östlicher Richtung an ihrem Küchenfenster vorbeigerast. Sie meinte, zwei Jungen gesehen zu haben, die ihr vom Seitenfenster des Führerstands aus zuwinkten. Doch niemand glaubte ihr.
Die Fahrt der Lokomotive blieb auch in Southampton nicht unbemerkt, und die Studentenzeitung
Ufo Today
diskutierte in der nächsten Ausgabe über die Existenz von Geisterzügen.
Der Autor des Artikels schrieb, unzählige Augenzeugen hätten von seltsamen Ereignissen berichtet, die sich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag zugetragen haben sollten: ein ferner, drohender Pfiff einer Lokomotive, eine Wolke aus dunkelgrauem Rauch und schließlich die rasante Durchfahrt einer mindestens sechzig Jahre alten Lok.
Viele Monate später gestand ein Mr Hugh Pennywise, der im Londoner Bahnhof Charing Cross arbeitete, seiner Frau, dass er glaube, er habe eine Dampflokomotive auf einem toten Gleis in den Bahnhof einfahren sehen. Sie hatte sich zwischen den anderen, hochmodernen Elektroloks hindurch bis zu einem leeren Bahngleis geschlängelt, hatte leise mit den Bremsen gequietscht und war schließlich stehen geblieben. Zwei Jungen mit Rucksäcken waren ausgestiegen. Sie hatten sich von dem bärtigen Lokführer verabschiedet und waren wie selbstverständlich ins Innere des Bahnhofs geschlendert. Hugh Pennywise nahm an, dass es sich um die Söhne von Milliardären gehandelt haben müsse, die sich einen Privatzug leisten konnten.
Dann war die Dampflok wieder weggefahren und im dunklen Rauch verschwunden, als sei sie niemals dagewesen.
Kapitel 23
Schreie in Venedig
Tommaso Ranieri Strambi hörte die Schreie, als er gerade über die Brücke ging, die auf die Gasse Fondamenta di Borgo führte. Erschrocken begann er loszurennen. Instinktiv wusste er, dass die Schreie von der Ca’ degli Sgorbi kamen.
Als er schließlich in die Gasse einbog, in der die alte Villa des Malers Morice Moreau stand, verlangsamte er sein Tempo. Schon von Weitem sah er Anitas Mutter auf der Straße.
»Das ist schrecklich!« Die Restauratorin schien den Tränen nahe zu sein. »Das ist doch nicht möglich! Was mache ich denn jetzt?«
Tommaso blieb stehen, unschlüssig, was er tun sollte.
»Oh, hallo, Tommi!«, begrüßte Mrs Bloom ihn. Sie war von oben bis unten mit Kalkstaub bedeckt.
»Guten Tag, Signora Bloom. Was ist denn passiert?« Tommaso versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
Mrs Bloom warf die Hände in die Luft. »Eine Katastrophe …«
»Ist Anita etwas passiert?«, platzte es aus Tommaso heraus.
»Anita?« Mrs Bloom fing an, in ihrer Tasche zu wühlen.
»Die Katastrophe …«
»Ach, nein, das hat nichts mit Anita zu tun. Es sind die Farben für die Fresken. Sie haben sie bei dem Haus abgestellt, in dem wir wohnen!«
Erleichtert atmete Tommaso auf. »Ach so.«
»Das ist sehr ärgerlich für mich. Jetzt muss ich den Lieferanten irgendwie dazu bewegen, sie mir mit dem Boot doch noch hierherzubringen!«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, erkundigte sich Tommaso.
»Oh ja, danke, das wäre nett. Könntest du ins Haus gehen, ich habe den Schlüssel oben im ersten Stock auf einem der Tische
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