Ulysses Moore – Die steinernen Wächter
es schon auf!«
Dem Päckchen entströmte ein leckerer Obstgeruch. Mrs Banner zog ihre Schürze aus. Sie war gerade vom Haus der Familie Connor zurückgekehrt, bei der sie jede Woche putzte, und war todmüde.
»Was feiern wir denn?«, fragte sie ihren Sohn, als sie die Schleife aufknüpfte.
»Einen herrlichen Nachmittag«, schlug Rick vor.
Das Geschenkband glitt zu Boden und unter dem glänzenden Papier kam ein Dutzend großer, mit Zucker bestäubter Geleefrüchte zum Vorschein.
Als sie die Süßigkeiten erblickte, hielt sich Mrs Banner erschrocken eine Hand vor den Mund. »Aber Rick! Das sind doch unsere ...«, rief sie erschüttert aus.
»Ja«, bestätigte Rick. »Es sind unsere Lieblingssüßigkeiten. Meine, deine und ... die von Papa.«
Erinnerungen stiegen auf. Jeden Sonntag nach der Kirche war Ricks Vater in die Konditorei Chubber gegangen, um die Geleefrüchte zu kaufen, während seine Mutter draußen noch ein Schwätzchen mit Bekannten gehalten und Rick die Möwen auf dem Platz gejagt hatte. Manchmal war Rick aber auch mit in den Laden gegangen und hatte seinem Vater beim Aussuchen geholfen. Er hatte immer fünf von den Pinkfarbenen genommen, weil er die am liebsten mochte, und nur zwei von den Grünen. Die waren ihm zu bitter, sein Vater liebte sie jedoch.
Dann aber waren die Geleefrüchte aus dem Hause Banner verschwunden, zusammen mit Ricks Vater. Das Meer hatte ihn nicht mehr zurückgegeben. Und die Süßigkeiten waren in der Konditorei geblieben, weil seine Mutter es nicht mehr übers Herz gebracht hatte, den Laden noch einmal zu betreten.
»Na, komm schon ...«, sagte Rick, der irgendwann am Vormittag den Einfall gehabt hatte, diese Tradition wieder einzuführen, auch wenn heute nicht Sonntag war und sie nicht vorher in der Kirche gewesen waren. »Such dir einfach eine aus.«
In den Augen seiner Mutter standen Tränen. Sie schüttelte den Kopf. »N...nein. Nimm du doch eine.«
Rick wählte ein grünes Geleebonbon aus, die Sorte, die seinem Vater so gut geschmeckt hatte.
Er legte es sich auf die Zunge, biss aber nicht hinein, denn er fürchtete sich ein wenig vor dem bitteren Geschmack. Doch der kam nicht, stattdessen breitete sich ein zartes Pfefferminzaroma in seinem Mund aus.
Rick lächelte. Es schmeckte ausgezeichnet.
Er war offenbar doch schon ein bisschen erwachsener geworden.
Leonard Minaxo legte den Telefonhörer auf. Dann beugte er sich wieder über einige der Karten, die er in dem Raum ganz oben im Leuchtturm ausgebreitet hatte. Auf einer alten Seekarte ruhte immer noch das Exemplar von Der neugierige Urlauber. Kleiner Reiseführer von Kilmore Cove und Umgebung , das er sich am Vortag noch schnell bei Kalypso geschnappt hatte, damit es nicht den Kindern in die Hände fiel.
Leonard schloss die Tür und machte sich daran, die über tausend Stufen der Wendeltreppe hinabzusteigen, die die verschiedenen Ebenen des Leuchtturms miteinander verband. Die Treppe hatte kein Geländer und verlief an der Wand entlang, die mit Fischgerippen geschmückt war. Zu Leonards Prachtstücken zählten der Unterkiefer eines Wals, den er vor Nordsibirien erlegt hatte, drei Haimäuler mit furchtbaren Zähnen aus dem Pazifischen Ozean, die Stoßzähne eines Walrosses und der lange Zahn eines Narwals aus der Arktis.
Leonard machte nicht im Erdgeschoss halt, sondern folgte der Treppe noch tiefer nach unten, bis zu einer Tür. Er kontrollierte, ob sie auch gut verschlossen war, stieg dann wieder hinauf und verließ den Leuchtturm.
Draußen wehte ein starker Ostwind, der flache, gerade Wellen formte.
Leonard erreichte den Pferdestall und öffnete Ariadnes Box.
»Na, meine Schöne«, sagte er zu der Stute und putzte sie rasch. »Heute gibt es etwas für uns zu tun.«
Nachdem er sie gesattelt hatte, führte er Ariadne hinaus. Er überlegte noch einmal kurz, ob er auch wirklich alle Türen und Fenster verschlossen hatte, sah nach, ob sein Messer an seinem Gürtel hing, und schwang sich in den Sattel.
»Schnell!«, rief er. »Wir wollen in den Wald!«
Die Stute trabte aufgeregt an und galoppierte kurz darauf los.
Leonard ritt so sicher wie ein Cowboy. Im Nu hatten sie den Pfad vom Leuchtturm zur Küstenstraße hinter sich gelassen und schlugen den Weg zu den Hügeln von Crookheaven ein.
Von Leonard mit sparsamen, aber sicheren Bewegungen gelenkt, nahm Ariadne einen Hohlweg in Angriff, der zwischen den Felsen den Hügel hinaufführte. Sie erreichten die Kuppe. Dann ging es auf einem steilen Weg wieder
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