Ulysses
Wörtern und Bildern, die erst später ihre Erklärung bzw. ihre direkte oder indirekte Aufhellung erfahren und in einen Zusammenhang gestellt werden, ein gutes Gedächtnis und eine geschulte Lesetechnik voraus. Bei genauer Lektüre jedoch erweist sich Ulysses als ein Werk, für dessen ingeniöse Konstruktion und für dessen Dichte in der Weltliteratur nur wenig Vergleichbares zu finden ist. Es gibt keine stumpfen Motive, keine losen Enden in dem Anspielungs- und Verweisungsgefüge dieses Buches, das in der Bedeutungsgeladenheit jedes einzelnen Satzes eher mit streng komponierter Lyrik als mit der herkömmlichen Romanliteratur verglichen werden kann.
Joyce ist im Ulysses minuziöser Realist; er zeichnet das Dublin des Jahres 1904 so plastisch und – von Fleischkonservenmarken bis zu Schiffsnamen, von damals gängigen Liedern bis zu Straßennamen – so detailgetreu, daß Arno Schmidt das Werk ein »Handbuch für Städtebewohner« nennen konnte. Ebenso minuziös wird die psychische Realität der Personen aufgezeichnet; Ulysses ist einer der ersten Romane, in die die tiefenpsychologischen Erkenntnisse Freuds eingingen, und Joyce fand in der Technik des inneren Monologs, der unmittelbaren Reproduktion der bewußten und halbbewußten Träume, Gedanken, Wünsche des Menschen, das adäquate literarische Instrument, psychische Vorgänge ohne einen vorgeschalteten fiktiven Erzähler wiederzugeben. Er erkannte, obwohl Édouard Dujardin in Les lauriers sont coupés (1888) den inneren Monolog schon vor ihm benutzt hatte, die Möglichkeiten dieser Erzähltechnik, die er bereits so differenziert einsetzte, daß die verschiedenen Arten des Assoziierens sich deutlich voneinander abheben: Die assoziative Gedankenflucht Stephens tendiert zum Begrifflichen, Philosophisch-Spekulativen; Bloom assoziiert Zivilisatorisches, Seife, Essen, Reklameverse, Operettenmelodien; Molly dagegen Körperliches, Sexuelles, Düfte usw. Joyce verliert sich dabei nicht ins Mikroskopische, stellt vielmehr – gewiß halb ironisch – Dublin und seine Menschen in kosmische Bezüge, macht es zum omphalos, zum Nabel der Welt, und heitert die triste Alltäglichkeit seines Stoffes vor allem durch die antike Folie auf, durch die witzig-komplexen Bezüge auf die heroische Welt Homers.
Die Wirkung des Werkes, das aufgrund seiner vielschichtigen Struktur und seines Anspielungsreichtums eine schon heute unüberschaubare Fülle von literarkritischen und philologischen Studien nach sich gezogen hat, ist kaum abzuschätzen. Die kompositorische Stringenz des Ulysses, die Sprachbehandlung und die Präzision der Detailbeobachtung haben für die Romankunst Maßstäbe gesetzt, denen im 20. Jh. wenige andere Werke, darunter wohl Prousts A la recherche du temps perdu, Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Döblins Berlin Alexanderplatz, gerecht werden. Fortgewirkt hat vor allem die Technik des inneren Monologs, die sich z. B. bei Döblin, in Thomas Manns Lotte in Weimar, in Hermann Brochs Tod des Vergil, bei Alfred Andersch, Uwe Johnson und Arno Schmidt findet. – Bewunderung bei den Kritikern aber fand vor allem die konsequent durchgehaltene – von Stuart Gilbert nach Hinweisen von Joyce aufgeschlüsselte – Symbol- und Motivstruktur des Buches, die Zuordnung eines Schauplatzes, eines Organs, eines Symbols (oder einer Symbolfigur) und einer bestimmten Erzähl- oder Sprachtechnik zu jedem einzelnen Kapitel, ohne daß daraus ein trockenes Konstruktionsprinzip würde. Weder zynisch noch pessimistisch, wie man ihm oft vorgeworfen hat, ist der Ulysses auf weite Strecken von überwältigender Realistik und oft geradezu halkyonischer Heiterkeit. »Ich habe nichts gelesen, das ihn übertrifft, und bezweifle, je etwas gelesen zu haben, das ihm gleichkäme«
(A. Bennett).
J.Dr.Prof. Dr. Jörg Drews
AUSGABEN: NY 1918–1920 (in Little Review, März 1918 – Okt. 1920; Ausz.). – Paris 1922. –
Ldn. 1922. – Ldn. 1937; ern. 1958 [1. vollst. Ausg.]. – Ldn. 1967. – Harmondsworth 1969. –
Berkeley 1974, Hg. C. Hart u. D. Hayman. – Ldn./NY 1975, 3 Bde. [Faks. d. Ms.; Einl. H. Levin].
– Harmondsworth 1978 (Nachw. R. Ellmann; Penguin). – NY 1984, Hg. H. W. Gabler u. a., 3 Bde.
[krit.; m. Synopse]. – Harmondsworth 1986, Hg. H. W. Gabler u. a. (Penguin).
ÜBERSETZUNGEN: Ulysses, G. Goyert, Basel 1927. – Dass., ders., Zürich 1956. – Dass., ders., Mchn. 1966 (dtv). – Dass., ders., Ffm. 1967 [Einf. C. Giedion-Welcker; Nachdr. 1973]. – Dass., H.
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