Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Telefongespräch mitgeteilt, dass die Anwendung unmittelbaren Zwanges als Ultima Ratio in Betracht gezogen werden sollte. Edwin F. bat Stefan S. deshalb, die bisherigen Vernehmungsergebnisse darzulegen und zu Daschners Vorschlag Stellung zu nehmen.
»Trotz der strukturierten, ruhigen und sachlichen Atmosphäre, die Herr Mohn geschaffen hat, ist es ihm nicht gelungen, Zugang zu Gäfgen zu finden. Jede Aussage Gäfgens ist Teil einer Ablenkungsstrategie, um Zeit und Luft zu gewinnen. Ich rate aber von der Anwendung unmittelbaren Zwanges ab, da jede noch so kleine Aussagemotivation komplett kaputt gemacht würde und eine mögliche Aussage völlig unbrauchbar wäre.
Gäfgen ist selbstverliebt, arrogant und dem Geld verfallen. Wir müssen diesen charakterlichen Bereich ansprechen. Ich schlage vor, Gäfgen mit den Geschwistern Jakobs, insbesondere mit Elena, zu konfrontieren. Er hat ihre Nähe immer gesucht, bewunderte sie und strebte nach ihrer Anerkennung.«
Edwin F. wies Stefan S. daraufhin an, diesen Vorschlag mit Jakobs Eltern und Geschwistern abzuklären und gegebenenfalls Elena und Franz zu briefen, das heißt, festzustellen, ob sie psychisch in der Lage wären, die Gegenüberstellung zu ertragen, und sie auf die Konfrontation vorzubereiten.
»Ich schlage vor, noch weitere Personen ausfindig zu machen, die Einfluss auf Gäfgen haben könnten und zu einer Gegenüberstellung bereit wären«, fügte Stefan S. hinzu.
Marianne schien ihnen psychisch zu instabil und war deshalb auszuschließen. Zu keinem der verhörten Bekannten hatte Gäfgen ein wirklich vertrauensvolles Verhältnis, andere Freundschaften waren ihnen nicht bekannt.
Am Ende beschlossen sie, wie von Wolfgang Daschner angeregt, Gäfgen mit seiner Mutter, aber auch mit den Geschwistern und notfalls mit den Eltern Jakobs zu konfrontieren. In der Zwischenzeit sollte Bernd Mohn seine intensive Befragung weiterführen. Die Anwendung unmittelbaren Zwanges wurde zu diesem Zeitpunkt als nicht zielführend einstimmig abgelehnt.
Vizepräsident Daschner wurde von Edwin F. über die Ausarbeitung des Stufenplans informiert und war vorerst damit einverstanden. Vorrang hatte die Einbeziehung der Mutter als der vermutlich stärksten Bezugsperson. Voraussetzung für eine Konfrontation mit Jakobs Geschwistern war allerdings, dass die Eltern ausdrücklich damit einverstanden waren. Daschner machte keinen Hehl daraus, dass er diese von Stefan S. vorgeschlagene Maßnahme für ungeeignet hielt und gegen Elenas Belastung mit dieser Bürde erhebliche moralische Bedenken hatte.
Sein Plan sei gewesen, den Jakob auf dem Heimweg von der Schule abzufangen und unter einem Vorwand in seine Wohnung zu bringen. Dort habe er ihn fesseln und seine Augen und den Mund mit einem Klebeband zumachen wollen. Dann habe er ihn in eine Hütte bringen und das Erpresserschreiben bei der Familie hinterlegen wollen. Die Hütte, die er sich ausgesucht habe, habe er von einem Studienkollegen gekannt. Sie habe in einem abgelegenen Waldstück gelegen. Mit einer Axt habe er die Tür dieser Hütte einschlagen wollen.
In der Hütte habe er Jakob unter Alkohol setzen wollen, um bei ihm das Gedächtnis an diesen Tag zu löschen. Er habe gehofft, dass bei ihm durch den Alkohol die Erinnerung an diesen Tag verschwinde und er ihn deshalb auch nicht verraten könne. Dann habe er ihn in der Hütte alleine lassen und ihm in der Folgezeit immer etwas zu essen und trinken bringen wollen. Am Morgen nach der Geldübergabe habe er ihn an einem Bahnhof mit verbundenen Augen absetzen wollen.
Das Einzige, was dem Jakob nach diesem Plan hätte passieren können, wäre gewesen, dass er ihm zu viel Alkohol gegeben hätte. Er habe auch sonst alle Eventualitäten überlegt, also auch, was er machen müsse, wenn ihm bei der Fahrt mit Jakob im Kofferraum jemand hinten aufs Auto fahre und Jakob dadurch sterbe oder wenn Jakob in der Hütte erfrieren würde. Deshalb habe er auch überlegt, falls der Junge doch »versehentlich zu Tode kommt, wenn ich also eine Leiche habe, dann muss sie weg«. Bei der Geburtstagsfeier eines Studienkollegen im August 2002 habe er sich bei der Hütte noch mal umgeschaut und überlegt, die Leiche dann unter dem Steg abzulegen.
(Ob es sich um einen realistischen Plan gehalten habe:)
»Jein.« Es sei ihm natürlich bekannt gewesen, wie hoch die Aufklärungsrate bei Entführungen sei. Es sei wie beim Pokern gewesen, beim Bluffen.
(aus dem Vortrag des psychiatrischen Gutachters von Magnus
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