Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Innenministerium am späten Abend des 30. September 2002. Er wies darauf hin, dass das Ministerium eine Aussagegenehmigung erteilt habe und damit die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit aufgehoben sei; Daschner müsse uneingeschränkt aussagen.
Daschner fiel es wohl nicht leicht, seinen Gesprächspartner zu nennen, den er mehr als acht Jahre lang geschützt und für den er »den Kopf hingehalten« hatte, wohl wissend, dass er von dieser Person keine adäquate Gegenleistung zu erwarten gehabt hätte: Es war der damalige Präsident des Hessischen Landeskriminalamtes und spätere Landespolizeipräsident Norbert Nedela. Staatssekretär Udo Corts hatte festgelegt, dass über ihn alle Informationen aus Frankfurt laufen sollten, ergänzt durch die fachliche Beratung des Leiters dieser Fachaufsichtsbehörde über alle hessischen Polizeidienststellen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung.
Daschner schilderte noch einmal die damalige Situation: Jakob von Metzler war am Vormittag des 27. September 2002 entführt worden. Gäfgen, der das Lösegeld von einer Million Euro abgeholt hatte, kümmerte sich offenbar in keiner Weise um das Kind; stattdessen bestellte er einen neuen Mercedes, buchte mit seiner Freundin eine Urlaubsreise und flanierte in der Frankfurter Innenstadt, so als ob nichts gewesen wäre. An seiner Alleintäterschaft bei der Entführung habe kein vernünftiger Zweifel bestanden, Hinweise auf Mittäter oder Gehilfen habe es nicht gegeben. In höchstem Maße alarmierend war aber die Tatsache, dass Jakob seinen Entführer kannte: »Damit war aus der Sicht dieses Verbrechers sein Todesurteil gesprochen; wir mussten verhindern, dass es vollstreckt werden konnte.«
Ohne Versorgung mit Flüssigkeit hatte Jakob von Metzler eine maximale Überlebenschance von vier Tagen; diese Frist lief am Vormittag des 1. Oktober 2002 unerbittlich ab: »Die Uhr tickte von Minute zu Minute lauter und lauter.« Gäfgen aber schwieg – und wenn er etwas sagte, waren es Lügenmärchen, durch die teilweise auch andere unbeteiligte Personen schwerster Verbrechen beschuldigt wurden. Er war aalglatt, wich bohrenden Fragen des Vernehmungsbeamten aus und verwies auf seine Rechte als Beschuldigter im Strafverfahren – er wünschte zu schlafen.
Diesen dramatischen Lagebericht übermittelte Daschner am späten Abend des 30. September 2002 an Norbert Nedela. Er teilte ihm mit, dass weiterhin alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, insbesondere eine Konfrontation Gäfgens mit seiner Mutter, die wohl wirkungsvollste Maßnahme in dieser äußerst schwierigen Situation. Von einer Gegenüberstellung des Entführers mit Jakobs Schwester, die der Polizeipsychologe empfohlen hatte, hielt Daschner nach allen kriminalistischen Erfahrungen nichts. Er wies Nedela darauf hin, dass bei unveränderter Lage am Morgen des folgenden Tages von akuter Lebensgefahr für das entführte Kind ausgegangen werden müsse. Wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos verlaufen würden, müsse auch die Androhung unmittelbaren Zwanges in Erwägung gezogen werden. Nedela kommentierte dies mit den Worten: »Verstehe, Instrumente zeigen.« Daschner hakte nach: Wenn auch das nicht ausreiche, müsse im äußersten Notfall auch die Zwangsanwendung angeordnet werden. Auch dies wurde zustimmend zur Kenntnis genommen.
Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob er sich bei Nedela habe rückversichern wollen, antwortete Daschner, er habe nicht gefragt, ob diese Maßnahmen zulässig seien. Er habe die Situation realistisch dargestellt und auf die Notwendigkeit weiterer – auch ungewöhnlicher – Maßnahmen hingewiesen. Dazu sei ihm Zustimmung signalisiert worden. Er sei wohl zu Recht davon ausgegangen, dass Bedenken der vorgesetzten Behörde oder des Innenministeriums, wenn sie bestanden hätten, sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht worden wären. Dies sei aber weder bei diesem Gespräch noch bei einem weiteren Telefonat am nächsten Morgen der Fall gewesen, als sich die Lage weiter zugespitzt hatte: Gäfgen hatte in der Nacht behauptet, Jakob sei noch am Leben und werde in einer Hütte am Langener Waldsee gefangen gehalten. Um 8.23 Uhr berichteten die Einsatzkräfte, dass in einer Hütte, die Gräfgens Beschreibung entsprach, ein Schlaflager in Kindergröße mit Blutanhaftungen gefunden worden sei. Damit war zu befürchten, dass Jakob von Metzler auch noch verletzt sei und sich in höchster Lebensgefahr befinde. In dieser äußerst kritischen Situation habe
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