Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Wolfgang Daschner. Er kannte genügend Entführungsfälle, die so geendet hatten. Das letzte Opfer war der 20-jährige Matthias H. gewesen. Seine halbverweste Leiche wurde in einem Erdloch gefunden. Die festgenommenen Täter hatten die Aussage über seinen Aufenthaltsort verweigert. Bei der Autopsie wurden Teile eines Schuhs, den Matthias trug, in seinem Magen gefunden – sein letzter verzweifelter Versuch zu überleben.
Daschner wusste, dass er mit dem Bewusstsein, den Tod Jakobs mitverschuldet zu haben, nicht würde leben können. Das Leben des Kindes lag in seiner Hand. Jeder Mensch ist verpflichtet, Hilfe zu leisten. Für die Polizei besteht darüber hinaus der gesetzliche Auftrag zur Gefahrenabwehr, sie ist Garant für das Opfer. Je schwerwiegender die Gefahr, desto größer ist die Verpflichtung, alles zu tun, um sie abzuwehren. Aber es war auch eine Frage des Gewissens und der Moral, den Mord an einem unschuldigen Kind zu verhindern.
Und wenn die Buchstaben des Polizeigesetzes nicht ausreichen sollten, war von einem übergesetzlichen Notstand auszugehen, in dem wir uns befanden. Schließlich verpflichtet das Grundgesetz den Staat nicht nur gegenüber dem Gesetz, sondern auch – und in erster Linie – gegenüber dem »Recht«, und Recht ist immer auf Moral gegründet.
Wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos waren, blieb als Ultima Ratio nur noch die Androhung körperlicher Schmerzen. Wolfgang Daschner war bewusst, dass er sich in einer juristischen Grauzone befand, aber es gab keine andere Lösung.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet alle staatliche Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Wenn aber nicht beides möglich ist, nämlich die Würde des Täters zu achten und gleichzeitig auch die Würde des Opfers zu schützen, muss eine Entscheidung getroffen werden. Im vorliegenden Fall ist das Recht des entführten Kindes auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit existenziell bedroht, während das Recht des Täters auf körperliche Unversehrtheit allenfalls partiell beeinträchtigt werden würde. Wenn ich nicht alles unternehme, um das Leben des entführten Kindes zu retten, könnte der Täter seinen Mord vollenden, dann würde ich wegen Tötung durch Unterlassen verurteilt werden, dachte Daschner.
Um 1.23 Uhr informierte er sich noch einmal beim Führungsstab über den aktuellen Stand. Gäfgen hatte um 0.45 Uhr im Beisein seines Anwaltes Zoll angegeben, dass Jakob lebe und von namentlich genannten Brüdern in einer Hütte am Langener Waldsee bewacht werde. Alle Schritte zur Durchsuchung des Gebietes und der Festnahme der Brüder waren eingeleitet.
Eine weitere Hinhaltetaktik oder die Wahrheit?
Auch im Explorationsverlauf und psychischem Befund zeigte sich Herr Gäfgen zwar kontaktfreudig, aber dabei recht gehemmt, harmoniebedürftig und konfliktvermeidend.
Er zeigte wenig emotionale Bewegung und verblieb bei seinen insgesamt sehr umfangreichen Angaben stets auf einer sachlich-oberflächlichen Ebene, ohne dass sein inneres Erleben deutlich wurde. Die Primärpersönlichkeit erschien trotz seiner 27 Jahre noch wenig gereift mit einer Diskrepanz zwischen einem erhöhten Erlebnisbedürfnis und einer eher geringen Erlebnisfähigkeit.
Dass Herr Gäfgen in seinem Bemühen um Geltung und Erlebnis allenfalls sein Wunschbild von sich selbst zum Ausdruck gebracht hat, also das Unechte seines Verhaltens, schien zumindest der Zeugin Elena von Metzler aufgefallen zu sein.
(aus dem Vortrag des psychiatrischen Gutachters von Magnus Gäfgen)
Weit vor dem zu durchkämmenden Gebiet wurden die Polizeitransporter abgestellt. Der durch die Nacht dröhnende Motorenlärm sollte die Hütten am See nicht erreichen. Geräuschlos öffneten sich die Türen und die Hundertschaften der Bereitschaftspolizei sprangen ins Freie. Von allen Seiten liefen die dunkel gekleideten Gestalten in Richtung See.
Das ganze Gebiet war in Planquadrate aufgeteilt, und für jedes dieser Quadrate war eine Gruppe zuständig. Leise und vorsichtig tasteten sich die einzelnen Einheiten in der Dunkelheit der Bäume zu ihren Positionen vor. Mit langsamen Schritten versuchten sie, knackende Ästchen zu vermeiden, jedes Räuspern wurde unterdrückt. Sie durften keinen Argwohn erregen.
Um 5.10 Uhr kam das Startsignal. Während mehrere Polizisten das jeweilige Quadrat, für das sie zuständig waren, absicherten, nahmen sich einzelne Gruppen nach und nach die Hütten vor. Sie schlichen sich heran,
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