Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
eine Voraufklärung der Örtlichkeiten unternehmen sollten. Diese benachrichtigten uns gegen 4.00 Uhr, dass sich um den Langener Waldsee mehrere Hütten befänden und bisher keine genau der Beschreibung entsprach.
Daraufhin wurden mehr als tausend Polizeibeamte mit 60 Polizeihunden mobilisiert, an der Durchsuchung teilzunehmen. Ein Großteil wurde vom Stadtwald und aus Sachsenhausen abgezogen, wo sie schon seit Stunden nach Jakob gesucht hatten, andere wurden aus dem Schlaf gerissen und herbeordert. Bald sollten auch die Beamten aus den anderen Bundesländern eintreffen.
Wir wussten nicht, ob sich die beiden Brüder bei Jakob in der Hütte befanden oder sich in ihren uns mittlerweile bekannten Wohnungen aufhielten. Das Sondereinsatzkommando bereitete deshalb auch die Festnahme der Brüder in Frankfurt vor.
Wir mussten davon ausgehen, dass die beiden skrupellose und gefährliche Entführer waren. Der Einsatz wurde deshalb minuziös durchdacht. Pläne der Häuser und Wohnungen wurden besorgt und studiert, unauffällig überprüften unsere Leute vor Ort die Umgebung und die weiteren Hausbewohner, ob sie den Einsatz eventuell unterstützen oder stören könnten.
Ich war wieder voller Hoffnung, dass wir Jakob finden würden und ihn zu seiner Familie zurückbringen könnten.
Der amtierende Polizeiführer Edwin F. hatte Daschner gerade angerufen und ihm mitgeteilt, dass der Führungsstab die Androhung von Gewalt als Ultima Ratio zurückgestellt und sich einen alternativen Stufenplan überlegt habe. Polizeipsychologe Stefan S. sah in der Gegenüberstellung Gäfgens mit Elena und Franz von Metzler eine Möglichkeit, Gäfgen endlich zum Sprechen zu bewegen.
Polizeivizepräsident Daschner saß nach einem langen Arbeitstag an seinem Schreibtisch zu Hause. Erst als ihm Edwin F. versichert hatte, dass die Eltern der Kinder einverstanden waren, hatte er dem Plan zugestimmt. Trotzdem quälten ihn moralische und sachliche Bedenken: Kann denn ein so junges Mädchen mit dieser Verantwortung fertigwerden, was passiert, wenn sie ihn nicht zum Sprechen bringt und Jakob stirbt? Warum sollte sich Gäfgen gerade bei Elena, die er nach Meinung des Psychologen bewunderte, öffnen, sich als Verbrecher und Versager darstellen und ihr gestehen, ihren kleinen Bruder entführt zu haben? Daschner war der Ansicht, dass Gäfgen Elena nicht bewunderte, sondern sie vermutlich lediglich dazu benutzt hatte, um ihren Bruder kennenzulernen. Daschner konnte den Vorschlag des Psychologen nicht nachvollziehen.
Seine Männer waren überarbeitet und ausgelaugt, er fragte sich, ob er ihnen weiterhin zumuten konnte, die alleinige Verantwortung für Jakobs Leben oder Tod zu tragen.
Das Telefonat mit dem Gesprächspartner zum Innenministerium hatte Daschner in seiner Ansicht bestärkt, dass sie es mit mehr als einer außergewöhnlichen Notlage zu tun hatten, und dass die Androhung von Gewalt als Ultima Ratio das Leben Jakobs retten könnte.
Nie in seinem langen Berufsleben hatte er eine solche Situation bewältigen müssen, hatte er vor solch einer Entscheidung gestanden. Aber er musste sich der Situation stellen.
Gäfgen war eindeutig in die Entführung verwickelt, wir hatten genügend Beweise. Er durfte Jakob nicht überleben lassen, der Junge kannte ihn, Gäfgen wollte seinen einzigen Tatzeugen töten. Welche Möglichkeiten hatte er? Er konnte Jakob zu diesem Zeitpunkt nicht mehr eigenhändig umbringen, da er sich im Polizeigewahrsam befand. Natürlich könnten das mögliche Mittäter verwirklichen. Aber die Hemmschwelle, ein Kind zu töten, ist hoch.
Die zweite Alternative war, dass er das entführte Kind einfach sich selbst überließ , seinen Tod abwartete. Dafür sprach auch der lange Zeitraum zwischen der Entführung und der Lösegeldübergabe. Allein damit hatte Gäfgen schon fast drei Tage Vorsprung gewonnen. War er der Alleintäter? Mit der Verzögerungstaktik, die Gäfgen anwandte, könnte er in wenigen Stunden sein Ziel erreicht haben. Jakob hatte wahrscheinlich noch höchstens zwölf Stunden zu leben. Jeder Gerichtsmediziner konnte das bestätigen.
Jakob war möglicherweise dabei, qualvoll zu verdursten, zu verhungern, zu erfrieren oder zu ersticken. Schmerzhafte Muskelkrämpfe würden seinen kleinen Körper durchzucken. Er hätte nur noch wenig Kraft, um Hilfe zu rufen. Hatte er die Hoffnung schon aufgegeben oder versuchte er noch, sich auf verzweifelte Art bemerkbar zu machen? An wen oder was dachte er?
Diese Gedanken erschütterten
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