Um Leben Und Tod
der Hand der Entführer. Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen, nämlich, dass er seitdem nicht mehr versorgt wurde und wegen des Flüssigkeits- und Nahrungsentzugs in akuter Lebensgefahr schwebt. Wir wissen nicht, ob er verletzt ist. Oder ob er überhaupt noch lebt. Aber es ist unsere Pflicht als Polizisten und als Menschen, so lange nicht das Gegenteil bewiesen ist, davon auszugehen, dass der Junge zu retten ist.«
Daschners Stimme klang entschlossen und duldete keinen Widerspruch. Edwin F. ahnte, welchen Schritt Daschner zu gehen bereit war. Ihm sei, so behauptete er später, dabei nicht wohl gewesen, aber ihm fiel keine Alternative ein, niemandem fiel eine Alternative ein. Er schwieg.
»Die Gefährdungslage Jakobs ist deshalb absolut vorrangig und seine Lebensrettung das oberste Ziel. Jede weitere Entscheidung, die zu treffen ist, darf dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Polizei kann nicht tatenlos daneben stehen, während ein Kind umgebracht wird.«
Daschner ordnete an, endlich die Gegenüberstellung Gäfgens mit seiner Mutter durchzuführen und die bis dahin erhaltenen Ergebnisse der Durchsuchungen an den beiden Seen und in den Wohnungen der Brüder B. auszuwerten. Bei negativem Ausgang müssten jedoch weitergehende Schritte unternommen werden, um das Leben Jakobs zu retten. Daschner hatte über den Einsatz eines Lügendetektors nachgedacht, aber die Idee als unsicher und kaum zielführend bewertet und verworfen.
»Wir müssen Gäfgen dazu veranlassen, uns den Aufenthaltsort des Kindes mitzuteilen. Es handelt sich um einen extremen Notstand, die Menschen in unserer Republik würden es nicht verstehen, wenn wir tatenlos zusähen, wie ein Kind qualvoll ermordet wird. Ich ordne deshalb an, während der Wartezeit folgende MaÃnahmen vorzubereiten: Erstens soll geprüft werden, ob kurzfristig ein Wahrheitsserum, in Form von Natriumpentotal, beschafft werden könnte. Zweitens die Anwendung unmittelbaren Zwanges unter polizeiärztlicher Aufsicht und mit lückenloser Bild- und Tondokumentation zu planen und zu organisieren.
Vergessen Sie auch nicht, dass der Tatverdächtige seine Situation durch sein verbrecherisches Handeln selbst geschaffen hat und sich durch die Preisgabe des Verwahrortes des entführten Kindes â wozu er verpflichtet ist â jederzeit aus dieser Situation befreien kann. Jakob kann das nicht.«
Die Besprechung war beendet, die beiden Kollegen waren entlassen. Daschners Anordnung lastete auf ihren Schultern, stieà jedoch auf keinerlei Widerspruch.
Edwin F. beauftragte den Leiter des Staatsschutzes (K 41) mit den Recherchen hinsichtlich des Wahrheitsserums und begab sich nach Hause. Die übrigen MaÃnahmen sollten von Werner T. eingeleitet werden, der Edwin F. routinemäÃig ablöste.
Dieser beauftragte um 6.31 Uhr telefonisch den Leiter der operativen MaÃnahmen, Joachim W., einen Beamten des Spezialeinsatzkommandos ausfindig zu machen, der geeignet wäre, eine »Schmerzzufügung« durchzuführen. Der Beamte musste psychologisch gefestigt und stabil sein und sein Einverständnis geben.
Sofort darauf rief er den Polizeiarzt Dr. Cortes an und beorderte ihn zur Dienststelle, ohne ihm am Telefon den Grund mitzuteilen.
Auch an den Tagen, wo er Marianne [Name geändert] nicht von der Schule abgeholt habe, habe er vor der Schule in seinem Auto gesessen und gewartet, ob Jakob alleine herauskomme. Dies sei vier- bis fünfmal so gegangen, bis am Donnerstag vor der Tat eine Kreditkartenrechnung gekommen sei, mit der er zu dem Zeitpunkt noch nicht gerechnet habe. Jetzt habe er gewusst, dass alles vorbei sei und alles auffliegen werde. »Da war ich wirklich am Ende, das warâs jetzt.« Er habe den ganzen Scheiterhaufen vor sich gesehen, dass er seine Freundin verliere, seine Freunde und sein Leben. In der Woche davor sei sein Geld schon ziemlich am Ende gewesen, sodass er Marianne einige Dinge nicht mehr habe kaufen können. Sie sei deswegen schon traurig geworden, aber auch so pampig und motzig. Er habe ihr auch einige Sachen versprochen gehabt, Schuhe und einen Pulli und dass man zusammen mit ihrer Freundin und dem Börsenmakler Essen gehen werde, was er aber aus Kostengründen immer wieder verschoben habe â¦
Dann sei Jakob gekommen, und zwar allein.
(aus dem Vortrag des psychiatrischen Gutachters von Magnus Gäfgen)
Die gesamte Lage und die zu treffenden
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