Um Leben Und Tod
Schritten versuchten sie, knackende Ãstchen zu vermeiden, jedes Räuspern wurde unterdrückt. Sie durften keinen Argwohn erregen.
Um 5.10 Uhr kam das Startsignal. Während mehrere Polizisten das jeweilige Quadrat, für das sie zuständig waren, absicherten, nahmen sich einzelne Gruppen nach und nach die Hütten vor. Sie schlichen sich heran, umstellten sie, suchten nach einer Schwachstelle, um in die Hütten hineinzukommen. Nur wenn es nicht anders ging, wurde eine Hütte aufgebrochen. Die Angst vor jedem Geräusch, das durch die Stille schallen und sie verraten könnte, machte sie erfinderisch bei ihrem Vorgehen.
Mit dem ersten Licht fuhr auch unsere Polizeiärztin Dr. Caspari mit einem Opferbetreuungsteam zum See, damit Jakob nach seiner Befreiung sofort verarztet und psychologisch stabilisiert werden könnte. In ihrem Auto lag frische Kleidung für Jakob, die seine Eltern dem Team mitgegeben hatten. Das würde die spurenschonende Sicherung von Jakobs getragenen Kleidungsstücken erleichtern.
Es war ein intensives Gefühl, das uns trug, jeden für sich und alle zusammen, die Hoffnung Jakob zu finden, seine Freude, seine Erleichterung, seine Befreiung zu erleben.
Aber trotz der vielen Kräfte erwies sich der Einsatz als eine mühselige Arbeit, und es war abzusehen, dass er sich über mehrere Stunden hinziehen würde.
Um 6.00 Uhr morgens wurde die Eingangstür zu Wilhelm B.s [Name geändert] Wohnung in der Heimatsiedlung Sachsenhausen gewaltsam geöffnet. Zehn maskierte und bewaffnete Männer des Spezialeinsatzkommandos stürmten in die Wohnung und umstellten das Bett, in dem Wilhelm und seine Freundin abrupt aus dem Schlaf gerissen wurden.
»Polizei, keine Bewegung, wo ist der Junge?«
Wilhelm sah nur die Waffenläufe, die auf ihn und seine Freundin gerichtet waren, und war so geschockt, dass er erst einmal nicht verstand, was der Polizist gerufen hatte, sein erster Gedanke war: Der Krieg ist ausgebrochen.
Der Polizist wiederholte seine Frage. Wilhelm stotterte: »Welcher Junge?« Er bekam keine Antwort, sondern wurde grob aufgefordert, den weiÃen Einweg-Overall anzuziehen und ins Polizeipräsidium mitzukommen, wie auch seine Freundin. Sobald die beiden abgeführt waren, wurde mit der Spurensicherung und Durchsuchung begonnen.
Richard B. [Name geändert] lebte noch bei seiner Mutter. Die Tür zu ihrer Wohnung wurde um 6.25 Uhr aufgebrochen. Als die SEK-Beamten auch hier vermummt, mit ihren gezückten Waffen und Scheinwerfern in ihr Schlafzimmer traten, dachte Frau B. an einen Ãberfall, warf sich aus dem Bett und kauerte völlig verängstigt in einer Lücke zwischen Kleiderschrank und Kleiderständer. Ein Polizist näherte sich der Frau mit den Worten: »Polizei, wir tun Ihnen nichts, wo ist Ihr Sohn?« Angsterfüllt fragte Frau B., was passiert sei: »Lebt mein Sohn? Antworten Sie doch!«
Ein Polizist klärte sie auf, dass ihre Söhne eines sehr schlimmen Verbrechens verdächtig waren.
Wenige Minuten später wurde Richard in einer Mansarde auÃerhalb der Wohnung festgenommen. Mit Handschellen gefesselt, rief er seiner Mutter im Vorbeigehen ermunternd zu: »Alles in Ordnung, Mama, das hat uns Maggi Gäfgen eingebrockt.«
Frau B. setzte sich. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt, es gab kein Entrinnen. Wie ein Fluch lastete diese Geschichte auf ihren Söhnen.
Magnus Gäfgen hatten die beiden Brüder 1992 auf der Sommerfreizeit einer katholischen Gemeinde kennengelernt. Der damals 17-jährige Magnus durfte die Kindergruppen mitbetreuen und erfreute sich groÃer Beliebtheit bei den Kleinen. Auch nach den Sommerferien kümmerte sich Magnus liebevoll um die beiden Brüder. Er lud sie ins Kino ein, zu Computerspielen zu sich nach Hause, sie gingen Eisessen und zu McDonaldâs. Am Anfang geschmeichelt, wurde den beiden Jungen mit der Zeit die kontrollierende und besessene Aufmerksamkeit des jungen Mannes zu viel, kein Tag verging, an dem er nicht angerufen oder stundenlang auf der Treppe zu ihrer Wohnung gesessen und auf sie gewartet hätte. Wenn sie die Tür nicht öffneten, kam es auch vor, dass sich Magnus an der Hauswand hochzog und durch das Wohnzimmerfenster starrte, überprüfte, ob sie nicht doch zu Hause waren. Richard wurde von Magnus mit ständigen Ringkämpfen gequält. Der Junge bekam Angst vor dem riesigen »Freund«, wollte ihn nicht mehr
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