Um Leben Und Tod
sie sich zu schwach fühlte, um selbst Auto zu fahren.
Gegen 8.00 Uhr holten Kriminalhauptkommissar Jürgen P. und ein anderer Kollege Magnus Gäfgen aus der Zelle und brachten ihn in Jürgens Büro, wo er mit seiner Mutter sprechen konnte.
Jürgen P. hielt sich im Hintergrund, blieb bei der Konfrontation Mutter â Sohn jedoch dabei. Magnus Gäfgen sagte seiner Mutter, er stünde unter Druck und würde erpresst.
»Egal, du musst der Polizei sagen, was mit dem Kind ist, wen schützt du?«, flehte Frau Gäfgen ihren Sohn an.
»Ich kann nicht, ich kann nicht!«, jammerte Gäfgen.
»Denk an den Jungen, sag doch, wo er versteckt ist!«
»Ich werde erpresst, ich muss euch schützen!«
Gäfgen verlor seinen berechnend kühlen Kopf nicht und blieb bei seiner Version. Seine Mutter versprach ihm, bald wiederzukommen und gab die Hoffnung nicht auf, ihn das nächste Mal zum Sprechen zu bringen.
Um 8.23 Uhr erreichte mich die Nachricht, dass in einer der Hütten am See ein Kinderschlafplatz mit rotbraunen Anhaftungen gefunden worden war, es schienen Blutspuren zu sein. Es war nun leider zu befürchten, dass Jakob, durch den Entzug von Flüssigkeit ohnehin in höchster Lebensgefahr, zusätzlich auch noch verletzt war.
Ich erinnerte mich wieder an den Zettel, der in der Wohnung Gäfgens gefunden worden war und bei dem es sich offensichtlich um Notizen seines Tatplans handelte. Unter anderem kam darin das Wort »Steg« vor. Ich veranlasste, dass diese Information nochmals an den Einsatzabschnitt »DurchsuchungsmaÃnahmen Waldsee« weitergegeben wurde und von dort aus nun vordringlich eventuell vorhandene Stege genauer untersucht werden sollten.
Wenige Minuten später wurde ich von einem Kollegen aufgefordert, sofort in das Büro des Vizepräsidenten Daschner zu kommen. Daschner wollte einen Beamten sprechen, der noch keinen persönlichen Kontakt mit Gäfgen gehabt hatte. Deshalb war die Wahl auf mich gefallen. Ich eilte durch den Neubau in den Altbau mit seinen Gewölbegängen. Um in die Räumlichkeiten der Behördenleitung zu gelangen, musste ich klingeln.
Ich betrat Daschners Büro das erste Mal. Es war recht groÃ, mit blauem Teppichboden ausgelegt und mit dunklen Möbeln ausgestattet. Vor dem Schreibtisch stand eine Sitzgruppe. Daschner forderte mich auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich dazu. Wir waren alleine.
Er erklärte, dass er sich groÃe Sorgen um Jakobs Leben mache â mittlerweile waren fast vier Tage vergangen, seit er entführt worden war. Gäfgen, dessen Tatbeteiligung zweifelsfrei feststand, hatte Jakob, solange er unter Beobachtung stand, nicht versorgt und niemanden beauftragt, dies zu tun. Immer wieder hatte er neue Lügengeschichten erzählt. Daschners gröÃte Sorge war, schon zu lange gewartet zu haben und damit möglicherweise für den qualvollen Tod oder für schwere Gesundheitsschäden des Kindes mitverantwortlich zu sein.
Gäfgen musste unter allen Umständen zum Reden gebracht werden, um Jakob zu retten, so Daschner. Wenn Gäfgen den Aufenthaltsort des entführten Kindes nicht sofort angäbe, müsste er durch die Anwendung unmittelbaren Zwanges bzw. durch den Einsatz eines Wahrheitsserums dazu gebracht werden. Daschner erläuterte mir noch kurz, dass er als rechtliche Grundlage dafür zum einen das HSOG (Hessisches Gesetz über Sicherheit und Ordnung), zum anderen das StGB (Strafgesetzbuch), explizit die Rechtfertigungsgründe der Notwehr in Form der Nothilfe sowie des übergesetzlichen Notstandes, sah.
Er fuhr fort, dass der Beamte, der sich dazu bereiterklärt hatte, die angedachte MaÃnahme umzusetzen, noch im Urlaub sei. Deshalb sei beabsichtigt, ihn mit einem Hubschrauber einfliegen zu lassen. Es handelte sich um einen Polizeibeamten, der über eine Ãbungsleiterlizenz des Deutschen Sportbundes verfügte und damit nicht nur die polizeilich zulässigen ZwangsmaÃnahmen, sondern auch die erlaubten Techniken verschiedener Sportarten beherrschte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht ahnen, dass die Boulevardpresse später reiÃerisch aus ihm einen »Folterspezialisten« machen würde.
Daschner beauftragte mich, Gäfgen erneut zum Verwahrort des Kindes zu befragen, eindringlich an sein Gewissen zu appellieren und auf die akute Lebensgefahr des Jungen hinzuweisen. Und er ordnete an, keine Fragen zum Tathergang und zur
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