Umzug ins Glück
mich ungehalten an. »Ein paar davon sind … etwas nass. Schließlich konnte ich dasKlo nicht erreichen. Und du musst mir eine neue Unterhose aus dem Schlafzimmer bringen und diese schwarze Jerseyhose. So lasse
ich mich jedenfalls nicht abholen.«
»Du willst dich wirklich umziehen?« Mir war klar, dass sie das nur mit meiner Hilfe konnte. Und ehrlich gesagt, war der Gedanke
an das Pipi nicht so schlimm wie die Vorstellung, was für eine Verletzung dabei zum Vorschein kommen könnte. Ich weiß, warum
ich nicht Krankenschwester geworden bin. »Das macht den Sanis bestimmt gar nichts aus, dass du …«
»Aber mir macht es was aus!«, fauchte sie. »Nun mach schon, bevor die hier sind!«
Es war mühsam, aber machbar. Ich merkte, dass sie große Schmerzen hatte, aber der Ehrgeiz, sich den Sanitätern auf keinen
Fall so zu präsentieren, war stärker. Ich ließ sie auf ihren Wunsch auf der Badematte liegen und trug den gesamten Handtuchbestand
in den Keller, wobei ich kopfschüttelnd feststellte, dass vermutlich kaum jemand über so viele Badetücher verfügte wie Tante
Paula. Aber sie stammte schließlich aus einer Zeit, die auch die »schlechte« genannt wurde, und wie viele ihrer Generation
tendierte sie dazu, diese Erfahrung durch das Horten von umso mehr Sachen zu kompensieren. (In diesem Fall ihr Glück, denn
so hatte sie wenigstens nicht zu arg frieren müssen.) Es war typisch, dass ich, nachdem ich mühsam die erste, feuchtere Hälfte
der Wäsche in die Trommel gestopft hatte, die Wahl zwischen mindestens fünf verschiedenen Waschmitteln hatte.
So lief die Waschmaschine schon, bevor das Klinomobil vor der Tür stand. Tante Paula war angekleidet und verfügte wie gewünscht
über ihre Handtasche, das Tagebuch aus ihrer Nachttischschublade und eine mittelgroße Reisetasche mit den notwendigen Utensilien
für einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt. Zwei freundlicheMänner hievten sie auf eine Trage und rüsteten sich zum Abstieg.
»Ich schließe noch ab und komme dann nach«, sagte ich.
»Brauchst du nicht«, sagte sie. »Ich war so lange GrüneDame da, ich kenne doch alle. Die können sich jetzt ruhig mal um mich
kümmern.«
Ich muss zugeben, so unangenehm war mir das nicht. Stundenlanges Herumsitzen in Krankenhäusern ist nicht mein Hobby. »Hast
du denn alles? Was zu lesen? Deine Brille?«
»Alles in der Handtasche«, versicherte sie mir, während sie die Treppe hinuntergeschaukelt wurde. »Aber du könntest mir noch
einen Gefallen tun.«
»Was denn?« Ich war zu allem bereit, weil sie mir das Mitkommen ersparte.
»Im Bad schräg über dem Waschbecken ist oben an der Decke eine dicke Spinnwebe«, sagte Tante Paula. »Die mach doch bitte noch
weg. Ich musste mir sie die ganze Nacht ansehen. Das hat mich total verrückt gemacht.«
Nur ansehen? Ich vermutete spontan, dass der Versuch, das Spinnennetz mit Hilfe eines dreibeinigen Hockers und eines Handfegers
zu entfernen, der Grund für ihren Unfall gewesen war. Weil sie zu bequem gewesen war, eine Trittleiter oder einen Besen mit
langem Stiel zu holen, hätte ich fast eine meiner letzten lebenden Verwandten verloren.
In meiner Familie (mütterlicherseits) wird seit Generationen das Ein-Kind-Prinzip praktiziert, schon viel länger als bei den
Chinesen, die aber bekanntlich wenig von der Berücksichtigung des Urheberrechts halten und deswegen so tun, als sei es ihre
Idee gewesen. Aber wir waren eher da. Es lässt sich nur schwerer nachverfolgen, weil essich bei den Einzelkindern meistens um Mädchen handelte und deswegen eine einheitliche Namenskennung nicht vorhanden ist.
Familientreffen sind bei uns eine wirklich überschaubare Angelegenheit. Das (im wahrsten Sinne seit Menschengedenken) letzte
Mal, dass einem Elternpaar mehr als ein Kind geboren wurde, war im Jahr 1915, als meine Oma das Licht der Welt erblickte.
Wir führen das auf die Wirren des Ersten Weltkriegs zurück, weil meine Urgroßeltern schon 1914 ein überlebensfähiges Mädchen
in die Welt gesetzt hatten, Auguste, die Mutter von Tante Paula.
Die beiden Schwestern machten das Beste aus der Situation und standen sich sehr nahe. Sie heirateten beide früh und bekamen
1936 beide innerhalb von einem halben Jahr ein Kind, eben Tante Paula und meine Mutter Annemarie, die ihrerseits wiederum
ein Leben lang eine enge Freundschaft pflegten. Auch die markige Blut-und-Boden-Rhetorik des Führers konnte die beiden Schwestern
nicht davon
Weitere Kostenlose Bücher