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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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er das Falsche gesagt, das sah er selbst. Mein Gott, vielleicht hatte sie eine furchtbare Abtreibung gehabt oder war vergewaltigt worden oder sonst was.
    »Du kannst also keine Kinder kriegen?«
    »Nein. Du hasst mich?«
    »Herrgott, Andrea.« Er nahm ihre Hand. »Ich hab schon zwei Kinder. Die Frage ist nur – ist das für dich okay?«
    Sie schlug die Augen nieder. »Nein. Ist für mich nicht okay. Es macht mich sehr unglücklich.«
    »Tja, wir könnten ... ich weiß auch nicht, zu einem Arzt gehen. Zu einem Spezialisten.« Er nahm an, dass die Spezialisten hier mehr Ahnung hätten.
    »Nein, kein Spezialist. KEIN SPEZIALIST .«
    »Na schön, kein Spezialist.« Er dachte: Adoptieren? Aber kann ich mir noch eins leisten, bei meinen Ausgaben?
    Er kaufte keine Kondome mehr. Dafür stellte er Fragen, so taktvoll er konnte. Aber mit dem Takt war es wie mit demFlirten: Entweder man hatte eine Begabung dafür oder eben nicht. Nein, das stimmte so nicht. Es war einfach leichter, taktvoll zu sein, wenn es einem egal war, ob man Bescheid wusste oder nicht; wenn es einem nicht egal war, wurde es schwieriger.
    »Warum stellst du jetzt diese Fragen?«
    »Tu ich das?«
    »Ja, ich glaube.«
    »Tut mir leid.«
    Aber vor allem tat ihm leid, dass sie es gemerkt hatte. Und dass er nicht aufhören wollte. Nicht aufhören konnte. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte es ihm gefallen, dass er nichts von ihr wusste; dadurch war alles anders, frischer. Dann hatte sie nach und nach etwas von ihm erfahren, während er von ihr nichts erfahren hatte. Warum konnte das nicht so bleiben? Weil du immer alles vermasseln musst, flüsterte seine Frau, Exfrau. Nein, das ließ er nicht auf sich sitzen. Wenn man sich verliebt, will man alles wissen. Ob gut, schlecht oder neutral. Nicht, dass man nach etwas Schlechtem sucht. Das ist doch der Sinn des Ganzen, wenn man sich verliebt, sagte sich Vernon. Oder daran denkt, sich zu verlieben. Auf jeden Fall war Andrea ein netter Mensch, dessen war er sich sicher. Warum sollte er also über einen netten Menschen nicht etwas hinter dessen Rücken herausfinden?
    Im Right Plaice kannten ihn alle: die Geschäftsführerin Mrs Ridgewell, Jill, die andere Kellnerin, und der alte Herbert, dem das Restaurant gehörte, der aber nur hereinschaute, wenn er Lust auf einen Gratishappen hatte. Vernon wählte einen Moment, wo der Mittagsbetrieb einsetzte, und ging an der Theke vorbei zu den Toiletten. Der Raum – eigentlich nicht mehr als ein Wandschrank –, in demdie Angestellten ihre Mäntel und Taschen ließen, lag direkt gegenüber der Herrentoilette. Vernon ging hinein, suchte Andreas Tasche, nahm ihre Schlüssel heraus und wedelte beim Herauskommen mit den Händen, als wollte er sagen: Dieser ratternde alte Händetrockner bringt’s eben nicht mehr.
    Er zwinkerte Andrea zu, ging in den Laden für Haushaltswaren, beklagte sich über Kunden, die nur einen einzigen Satz Schlüssel besaßen, machte einen kleinen Spaziergang, holte die neuen Schlüssel ab, ging ins Right Plaice zurück, legte sich einen Spruch über das kühle Wetter zurecht, das seiner Blase zu schaffen machte, brauchte ihn gar nicht anzubringen, legte ihre Schlüssel zurück und bestellte sich einen Cappuccino.
    Das erste Mal ging er an einem nieseligen Nachmittag hin, an dem sich niemand die anderen Leute auf der Straße anschaute. Da geht also ein Mann im Regenmantel auf einem betonierten Weg zu einer Haustür mit mattierten Glasscheiben. Drinnen öffnet er eine weitere Tür, setzt sich auf ein Bett, steht plötzlich auf, streicht die Delle im Bett glatt, dreht sich um, sieht, dass die Mikrowelle in Wirklichkeit gar nicht schrottreif ist, schiebt die Hand unter das Kopfkissen, ertastet eins ihrer Nachthemden, sieht sich die an der Bilderleiste hängenden Kleider an, berührt ein Kleid, das sie noch nicht getragen hat, schaut absichtlich nicht zu den Bildern auf dem kleinen Frisiertisch, geht raus, schließt hinter sich ab. Ist doch nichts dabei, oder?
    Beim zweiten Mal betrachtete er die Jungfrau Maria und das halbe Dutzend Bilder. Er fasste nichts an, hockte sich nur hin und schaute sich die Fotos in den Plastikrahmen an. Das ist bestimmt ihre Mama, dachte er beim Anblick der straffen Dauerwelle und der großen Brille. Und hier ist diekleine Andrea, ganz blond und ein bisschen pummelig. Und das da, ist das ein Bruder oder ihr Freund? Und da hat jemand Geburtstag, so viele Gesichter, dass man nicht weiß, wer wichtig ist und wer nicht. Er sah sich

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