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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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etwas zu sagen. Und ich glaube, sie kam gar nicht aus Polen.«
    »Nein, kam sie nicht.« Er schaute aufs Meer hinaus. » Uraaal «, sagte er unwillkürlich.
    »Wie bitte?«
    Man geht zum Bahnhof und zeigt dem Fahrkartenverkäufer ein Foto der vermissten Frau, und der erinnert sich an das Gesicht und sagt einem, wohin sie gefahren ist. So machten sie das im Film. Aber der nächste Bahnhof war zwölfMeilen weit weg, und da gab es keinen Fahrkartenschalter, nur einen Automaten, in den man Geld oder eine Plastikkarte steckte. Und er hatte nicht mal ein Bild von ihr. Sie hatten nie das gemacht, was andere Pärchen machen, sich zusammen in eine Kabine gezwängt, das Mädchen auf dem Schoß des Mannes, beide etwas bescheuert und unscharf. Wahrscheinlich waren sie dafür einfach schon zu alt.
    Zu Hause googelte er Andrea Morgen und bekam 497.000 Ergebnisse. Dann verfeinerte er die Suche und verringerte die Ergebnisse auf 393. Ob er nach »Andrea Morgan« suchen wollte? Nein, er wollte nicht nach jemand anderem suchen. Die meisten Einträge waren auf Deutsch, und er scrollte sich hilflos hindurch. In der Schule hatte er keine Fremdsprachen gelernt und seither auch keine gebraucht. Dann hatte er eine Idee. Er schaute in einem Onlinewörterbuch nach und fand das deutsche Wort für Schwimmer. Es war nicht dasselbe Wort für einen Mann wie für eine Frau. Er tippte »Andrea Morgen« ein, »1967«, »Halle« und »Schwimmerin«.
    Acht Einträge, alle auf Deutsch. Zwei stammten anscheinend aus Zeitungen, einer aus einem amtlichen Bericht. Es gab auch ein Bild von ihr. Das gleiche, das er in der Schublade gefunden hatte: Da war sie, die Zweite von links, die Arme um ihre Staffelkameradinnen geschlungen, große Falten in der weißen Badekappe. Er überlegte, dann klickte er auf »Diese Seite übersetzen«. Später fand er auch Links zu anderen Seiten, diesmal auf Englisch.
    Wie hätte er das wissen sollen, fragte er sich. Das Wissenschaftliche verstand er kaum, und das Politische interessierte ihn nicht. Aber er verstand einiges, was ihn interessierte und von dem er später wünschte, er hätte es nie gelesen; und das veränderte schon jetzt, da er von seinem Fenstertischim Right Plaice aufs Meer hinausschaute, seine Erinnerung an sie.
    Halle lag im früheren Ostdeutschland. Es gab ein staatliches Rekrutierungssystem. Mädchen wurden schon mit elf Jahren ausgewählt. Vernon versuchte, sich das vermutliche Leben dieses pummeligen kleinen blonden Mädchens auszumalen. Ihre Eltern unterschrieben eine Einverständnis- und eine Geheimhaltungserklärung. Andrea wurde in die Kinder- und Jugendsportschule aufgenommen, dann in den Sportverein Dynamo in Ostberlin. Sie hatte Schulunterricht, aber vor allem Training – schwimmen, schwimmen und noch mal schwimmen. Es war eine große Ehre, beim Sportverein Dynamo zu sein: Deshalb musste sie ihr Zuhause verlassen. Man nahm ihr Blut aus dem Ohrläppchen ab, um ihre Fitness zu testen. Es gab rosa Pillen und blaue Pillen – Vitamine, sagte man ihr. Später gab es auch Spritzen – einfach noch mehr Vitamine. Dabei waren es anabole Steroide und Testosterone. Sich weigern war verboten. Das Trainingsmotto hieß »Pillen nehmen oder sterben«. Die Trainer sorgten dafür, dass sie die Pillen schluckte.
    Sie starb nicht. Dafür passierten andere Dinge. Die Muskeln wuchsen, aber die Sehnen nicht, darum rissen die Sehnen. Es kam zu plötzlichen Akneausbrüchen, die Stimme wurde tiefer, die Gesichts- und Körperbehaarung nahm zu; manchmal wuchs das Schamhaar bis zum Bauch, sogar über den Nabel hinaus. Das Wachstum verzögerte sich, es gab Probleme mit der Fruchtbarkeit. Vernon musste Begriffe wie »Virilisierung« und »Klitorishypertrophie« nachschlagen und wünschte dann, er hätte es nicht getan. Herzkrankheiten, Leberschäden, missgebildete Kinder, blinde Kinder brauchte er nicht nachzuschlagen.
    Die Mädchen wurden gedopt, weil es funktionierte. OstdeutscheSchwimmer gewannen überall Medaillen, vor allem die Frauen. Nicht, dass Andrea es so weit gebracht hätte. Als die Berliner Mauer fiel und der Skandal ans Licht kam, als die Giftmischer – Trainer, Ärzte, Staatsbeamte – vor Gericht gestellt wurden, war von Andrea gar nicht die Rede. Trotz der Pillen war sie nicht in die Nationalmannschaft gekommen. Die anderen, die mit dem, was man ihrem Körper und ihrer Seele angetan hatte, an die Öffentlichkeit gingen, hatten wenigstens Goldmedaillen und ein paar Jahre des Ruhms vorzuweisen. Andrea hatte am

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