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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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einfachen Grund, dass ihr in der Stille dieser Nacht sein Leben wertvoller scheint als ihr eigenes. Er ist geradlinig und aufrecht, mit sich und mit den Entscheidungen, die er im Leben getroffen hat, im Reinen. Wenn man einen Einzeller als integer bezeichnen kann, dann ist Bob ein guter, rechtschaffener Mann. In seiner Schlichtheit, seiner Durchschaubarkeit ist er alles, was Carol nicht ist. Selbst als Vater taugt er mehr als sie als Mutter. Wenn Sophie mit nur einem Elternteil auskommen müsste, wäre ihr mit Bob wesentlich besser gedient.
    Unklar ist nur, wie sie es Sophie beibringen sollen. Es ist an der Zeit, sehr viel länger können sie es ohnehin nicht mehr vor ihr geheim halten. Aber wie es ihr sagen? Wie sie beruhigen, wie trösten? Dieser Aufgabe fühlen sie sich momentan noch nicht gewachsen. Dafür müssten sie sich wenigstens den Anschein geben können, dass sie glauben, was sie ihr sagen. Sophies Aufklärung wird also noch warten müssen.
    Helen ist ein so seltener Gast in ihrem Haus, dass Carol ihren Augen nicht traut, als sie sie die Auffahrt heraufkommen sieht. Ihr Anblick bestätigt sie nur in dem Gefühl, dass die Welt in unaufhaltsamer Auflösung begriffen ist.
    Auch Helen macht einen leicht verunsicherten Eindruck, wie ein Mensch am Flughafen, der sich den Jetlag und seine Desorientierung nicht anmerken lassen will.
    »Stört es dich, dass ich einfach so aufkreuze?«, fragt sie, als Carol sie ins Wohnzimmer führt.
    »Du meine Güte, natürlich nicht, du bist doch immer willkommen.«
    »Es ist nur, weil ich dich gestern nicht erreichen konnte und heute Vormittag auch nicht. Ich dachte, du gehst mir wieder aus dem Weg.«
    »Es ist wegen Bob.« Carol senkt vorsichtshalber die Stimme. »Wir haben gestern seine Testergebnisse bekommen.« Noch ehe sie überlegen kann, wie sie die nächsten Sätze formulieren soll, hat Helen sie schon mütterlich in die Arme geschlossen, und schon kann Carol sich gar nicht mehr vorstellen, wie sie die letzten vierundzwanzig Stunden ohne ihre Freundin überlebt hat.
    »Dann hat der Krebs gestreut?«
    »Ganz schön weit sogar.«
    »Aber deshalb kann Bob die Krankheit trotzdem überwinden.«
    »Das beten wir uns auch die ganze Zeit vor. Es kann allerdings noch ein bisschen dauern, bis wir es auch glauben.« Sie lächelt traurig. »Komm, setz dich, ich koch dir einen Tee.«
    »Das ist doch nicht nötig.«
    »Aber wenn ich es doch möchte.« Sie braucht eine Aufgabe, muss sich irgendwie beschäftigen, um über fremden Bedürfnissen ihre eigenen vergessen zu können. Während sie das Wasser aufgießt, sieht sie zufällig ihr Spiegelbild im Küchenfenster, geisterhaft grau vor dem verregneten Hintergrund der Siedlung. Sie erkennt das Gesicht nicht wieder. Es gehört einem Junkie, der den goldenen Schuss herbeifiebert.
    Sie knipst schnell das Licht aus.
    »Tut mir leid, dass es kein Kräutertee ist.« Sie stellt das Tablett auf dem Couchtisch ab.
    »Du weißt schon, dass im Tee auch Koffein ist? Das ist ungesund.«
    »Genau wie die hier.« Sie bietet ihr einen Teller mit Schokoplätzchen an. »Nicht selbstgebacken, darum essbar.«
    »Na gut, vielleicht eins …«
    »So zerbröseln die besten Vorsätze.«
    Bob kommt herein. So betont unauffällig, wie er sich ins Zimmer schiebt, hat er vermutlich an der Tür gelauscht.
    »Hallo, Helen.« Es scheint ihm unangenehm zu sein, dass Besuch im Haus ist. »Carol hat mir gar nicht gesagt, dass du kommst.«
    »Sie wusste es auch nicht. Es sollte eine Überraschung sein.« Bob runzelt die Stirn, blickt misstrauisch zwischen den Frauen hin und her. »Ich hatte das Gefühl, dass sie mich in letzter Zeit meidet«, setzt Helen eilig hinzu. »Aber anscheinend hab ich mir das bloß eingebildet.«
    Er nickt, als wundere ihn das nicht.
    »Ich fahr mal kurz in den Baumarkt«, erklärt er, an Carol gewandt. »Das Badezimmerregal wackelt ein bisschen. Und wenn ich schon mal dabei bin, will ich auch gleich noch die Wand streichen.«
    Helen strahlt ihn ein bisschen zu enthusiastisch an. »Wenn du fertig bist, kannst du gleich bei mir zu Hause weitermachen.«
    Ohne ein Lächeln, ohne ein Wort geht er hinaus.
    »Willkommen in unserem bizarren neuen Alltag«, meint Carol, kaum dass die Tür hinter ihm zugefallen ist.
    »Wie packst du das nur?«
    »Lass gut sein. Die Frage darf ich mir gar nicht stellen, sonst kriege ich sofort ein schlechtes Gewissen. Schließlich bin ja nicht ich diejenige, die krank ist.«
    »Aber es ist doch auch wichtig, wie du dich

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