Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
Vom Netzwerk:
Beispiel – »nichts Großartiges, aber einfach sehr hübsch« –, und ihrer komischen Nachbarin – »ein bisschen verrückt, und dann auch noch ›Tschüsschen‹, aber das Herz auf dem rechten Fleck.« Jedes Detail eine rührselige Reminiszenz, nostalgisch verklärt wie ein lange zurückliegender Sommerurlaub mit guten Freunden.
    Am liebsten würde er sofort einen zweiten Versuch unternehmen, Carol zu treffen, aber heute ist Montag – der Start seiner letzten Arbeitswoche –, und er fühlt sich verpflichtet, zum Dienst zu erscheinen. Sehr ungewohnt für ihn, die Arbeit eher als Pflicht denn als Privileg zu empfinden. Die Post hat ihm einmal wirklich etwas bedeutet, aber das war früher, als auch er der Post noch etwas bedeutet hat. Inzwischen ist die Arbeit nur noch eine störende Ablenkung von seinem neu erblühenden Privatleben.
    Die paar Tage kann er jetzt ruhig auch noch warten. Nachdem er ja nun weiß, wo er Carol finden kann, hat es keine Eile mehr. Abgesehen davon, sehen seine Füße nach dem letzten Marsch aus wie etwas aus dem Metzgerladen.
    Anfangs merkt er gar nicht, dass ihm etwas fehlt, und schiebt seine Müdigkeit auf die Anstrengungen des Wochenendes. Aber im Laufe des Tages geht es ihm immer schlechter. Carol, an die er die ganze Zeit hat denken müssen, verschwindet wie hinter einer Nebelwand. Er versucht, die Erinnerung festzuhalten – das Haus, die Fahnenstange, die ulkige Nachbarin –, aber langsam entgleitet ihm alles.
    Ihm ist plötzlich eiskalt. Mit steifen, schweren Gliedern zieht er sich die Jacke über. »Wo geht’s denn hin?«, fragt Mickey.
    »Nach Hause.«
    »Du hast’s gut.«
    Obwohl er es eigentlich eklig findet, lehnt Albert sich an die Fahrstuhlwand, um nicht umzukippen. Er weiß kaum noch, wie er es bis hierher geschafft hat, alles war wie in Zeitlupe, jeder Schritt, jede Bewegung seltsam gedehnt und endlos. Aber jetzt ist er endlich da, auch wenn er weder für sich selbst noch für Gloria etwas zu essen im Haus hat.
    Die Fahrstuhltür geht auf, und Max’ Blumen prangen ihm entgegen, eine Farbexplosion, die mehr an eine Migräne als an einen Garten erinnert.
    Max lässt sich auch diesmal nicht blicken. Seit er die Pflanzen nicht mehr gießen muss, scheint er überhaupt nicht mehr vor die Tür zu gehen.
    Im Vorbeigehen späht Albert bei ihm ins Fenster, aber die Vorhänge sind zugezogen, und er sieht nur sein eigenes Spiegelbild: einen alten Mann mit fahlem, eingefallenem Gesicht.
    Gloria sieht ihn erleichtert an, als er hereinkommt. Ihre Lagerstatt aus Klopapier ist durchgeweicht, doch bis dahin schafft Albert es nicht mehr.
    »Tut mir leid.« Er lässt sich aufs Sofa fallen. »Ich muss mich nur mal eben ein bisschen hinlegen.«
    Unverwandt sehen sie sich an, zwei alte Freunde, durch die Weite des Wohnzimmers getrennt, bewegungsunfähig und schwer angeschlagen.
    »Gleich kümmere ich mich um dich.« Ihm fallen bereits die Augen zu. »Ganz bald, versprochen …«

56
    Bobs Diagnose platzt wie eine Bombe in Carols Leben, reißt ihr den keimfreien Boden der schicken Praxis mit einem Ruck unter den Füßen weg.
    Der nach wie vor optimistische Tonfall, in dem der Arzt sich zu Prognosen äußert und ihnen Behandlungspläne vorschlägt, hat einen hohlen Beiklang. Carol und Bob trudeln im freien Fall, und niemand kann ihnen sagen, wie tief es nach unten geht oder ob ihr Fallschirm jemals aufgehen wird.
    Der Arzt verabschiedet sie mit ermutigenden Worten und einem kräftigen Händedruck, aber diesmal lächelt er mitfühlend, und von Gin ist keine Rede mehr.
    Als sie aus dem Haus treten, müht sich die schwache Sonne eines typisch englischen Wintertags durch die tiefhängenden, wie tränenschwer wirkenden Wolken.
    Sie wollen irgendwo zu Mittag zu essen, nicht weil sie Hunger haben, sondern um den Anschein von Normalität zu wahren und sich selbst zu beweisen, dass ihre Welt noch lange nicht untergeht. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich nicht für ein überfülltes Café in der King’s Road zu entscheiden, auf Tuchfühlung mit dem Schlag von Menschen, der sich schon gestresst fühlt, wenn er gleich nach dem Lunch einen Pediküretermin hat.
    Bob und Carol sitzen stumm vor ihren unberührten Tellern.
    »Es wird schon wieder werden«, sagt Carol schließlich.
    Bob antwortet nicht, greift nur nach ihrer Hand, für die kaum Platz ist zwischen den Tellern mit dem Geflügelsalat und den Kännchen mit Zitronengrastee.
    So sitzen sie da und drücken einander fester und immer fester

Weitere Kostenlose Bücher