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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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die Hände, als könnten sie mit vereinten Kräften das Unheil abwehren.
    Bobs Tränen sind zuerst kaum bemerkbar, doch als er mitzuckenden Schultern in sich zusammensinkt, wird es an den Nachbartischen leiser. Tisch um Tisch greift die Beklommenheit um sich, bis inmitten allgemeiner, stummer Hilflosigkeit nur noch Bobs Schluchzen zu hören ist.

57
    Als Albert aufwacht, weiß er nicht, wo er ist. Das Zimmer sieht im Morgengrauen ganz anders aus, und er ist so abgekämpft, dass er sich selbst nicht wiederkennt.
    »Ich glaub, ich träume«, murmelt er mit rauer, trockener Kehle.
    Wie mag der Traum wohl weitergehen? Werden über ihm gleich Narzissen aus der Decke sprießen, wird seine Frau kommen und ihm auf einem Elefantenrücken etwas vortanzen?
    Nichts dergleichen geschieht.
    Gar nichts geschieht.
    Erst als das fahle, kalte Licht immer weiter hereinsickert und Gloria kläglich zu miauen anfängt, begreift er, dass es kein Traum ist. Er versucht, vom Sofa hochzukommen, kann aber kaum den Kopf heben.
    »Ich bin ganz schön angeschlagen …«, seufzt er matt.
    Von ihrem besudelten Lager ruft Gloria nach ihm. Sie kann nicht begreifen, dass er nicht kommt und sie sauber macht, sie füttert, sie lieb hat.
    »Na, du? Wir sind ja vielleicht zwei Herzchen.«
    Wenn er sich weit genug reckt, müsste er an das Telefon auf dem Couchtisch herankommen.
    Oder er wartet einfach noch ein bisschen ab. Vielleicht hat er das Schlimmste schon überstanden. Mit etwas Glück kann er sich in ein, zwei Stunden in die Küche schleppen und Tee kochen.
    Aber dann fällt sein Blick wieder auf Gloria, und er weiß, dass die Lage aussichtslos ist. Panik glimmt in ihren Augen, ein instinktives Erkennen der Gefahr, in der sie schweben. Tagelang wird keiner nach ihm suchen, so viel ist sicher. Bis man sie findet, werden sie beide tot sein.
    Wenn nur das Telefon nicht so weit weg wäre … und dochfürchtet er sich. Die einzige Nummer, die er anrufen kann, würde die endgültige Kapitulation bedeuten. Wildfremde Leute würden in seiner Wohnung herumtrampeln. Albert weiß, wie das System funktioniert, wie es hilflose alte Männer und ihre kranken Katzen verschlingt.
    Carol anrufen, das wär’s. Sie würde sicher sofort kommen, sich um Glorias Nestchen kümmern und auch sonst alles tun, was getan werden muss. So eine ist sie nämlich.
    »Ich habe Angst«, ächzt er.
    Mit Tränen in den Augen reckt und streckt er sich nach dem Telefon, jeder Knochen im Körper tut ihm weh vor Anstrengung.
    Langsam lehnt er sich immer weiter vor, er ist schon fast dran, nur noch wenige Zentimeter – da verliert er den Halt. Er schlägt sich an der Tischkante das Gesicht auf und reißt das Telefon zu Boden.
    Albert bekommt nicht mit, wie die Wohnungstür eingetreten wird, bemerkt die Sanitäter erst, als sie ihm den Hörer aus der Hand nehmen und ihn auf eine Trage heben. Mit letzter Kraft hatte er den Notruf gewählt.
    »Gloria«, murmelt er. »Meine Katze …«
    »Keine Sorge, die Nachbarn kümmern sich um Ihre Katze.«
    »Nein, die bringen sie um! Die bringen sie um!« Die Trage bewegt sich, es ist ein Gefühl, als ob er fliegt. Gloria blickt ihnen nach. »Verstehen Sie doch, sie ist auch krank …«
    Aber schon bleibt sie hinter ihm zurück, und er sieht nur noch eine Wand, eine kaputte Tür und wird von einem kalten Luftzug gestreift. Er will sich aufsetzen, will verlangen, dass die Männer umkehren. Stattdessen schwebt er im Eiltempo an Max’ bunten Plastikblumen vorbei, die langsam Staub ansetzen.

58
    Die Nacht nimmt kein Ende. Während Bob fest neben ihr schläft, starrt Carol an die Decke, und die Stunden tropfen zäh vorbei, Sekunde um Sekunde. Sie lauscht dem regelmäßigen Auf und Ab seines Atems, schlaflos neben diesem Mann, mit dem sie ihr Leben seit fast zwanzig Jahren teilt, dem Vater ihres Kindes, und ertappt sich plötzlich dabei, dass sie versucht, einen Tauschhandel mit dem Universum einzugehen: Alles, was sie hat, will sie dafür hingeben, dass er noch lange und zufrieden leben kann.
    Ihr eigenes Glück zu opfern, klingt nach einer großen Geste, aber eigentlich tut sie das ja schon seit Jahren. Wenn man dann noch den ehebedingten Schwund hinzunimmt, ist es wohl doch kein so tolles Angebot. Was bleibt also noch? Nur ihr eigenes Leben, der einzige Einsatz, der noch etwas gilt.
    Ein seltsamer Gedanke, dass sie bereit wäre, für ihn zu sterben, aber es ist wahr. Nicht, weil sie ihn liebt – obwohl ihr Mitleid an Liebe grenzt –, sondern aus dem

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