Unbekannt verzogen: Roman
Schneckentempo zur Arbeit krochen. Sie wäre fast geplatzt vor Aufregung, als hätte sie ein Geheimnis, das sie unbedingt loswerden müsste; sie wollte das Fenster runterkurbeln und rufen: In ein paar Stunden liege ich am Strand, und dann mache ich zwei Wochen gar nichts, außer Cocktails schlürfen und daran denken, wie ihr armen Affen euch in eurer Tretmühle abstrampelt.
Und heute kriechen sie wieder im Stoßverkehr voran, nur diesmal mit einem ganz anderen Geheimnis. Carol fragt sich, was die Leute um sie herum wohl alles zu verbergen haben: Der Geschäftsmann links von ihnen ist vielleicht gar nicht auf dem Weg ins Büro, sondern tut nur so, weil er sich nicht damitabfinden kann, dass er seit einem Monat arbeitslos ist; und die Frau im Auto hinter ihnen bringt ihre Kinder vielleicht gar nicht zur Schule, sondern zu ihrem Vater, damit sie von ihm Abschied nehmen können, weil er im Sterben liegt.
»Kommt dir das nicht auch irgendwie verkehrt vor?«
Dass sie sich mit ihm unterhalten will, ist offenbar das Letzte, womit Bob gerechnet hat. Zu tief ist er in Gedanken versunken.
»Was ist verkehrt?« Er runzelt die Stirn.
»Wie wir alle leben. Da hocken wir so eng aufeinander, dicht an dicht wie die Ölsardinen, und keiner weiß etwas vom anderen.«
»Was willst du denn von den Leuten wissen?«
»Wo sie hinwollen, was sie machen, wie sie sich dabei fühlen.«
Bob wirft einen schnellen Blick in die Runde. »Zur Arbeit, zur Arbeit, zur Arbeit, zur Schule, und bei der da weiß ich’s nicht, aber freuen tut sie sich bestimmt nicht darauf, bei dem Gesicht, das sie macht.«
»Würdest du nicht gern wissen, warum sie so traurig aussieht? Vielleicht könnte man ihr helfen.«
»Sag mal, geht’s dir nicht gut?«
»Doch, ich …«
»Sonst kann ich auch gern selber fahren.«
»Nein, alles bestens. Aber … wär’s dir nicht zum Beispiel lieber, die Leute hier wüssten, dass du ins Krankenhaus fährst?«
»Nein.«
»Aber stell dir mal vor, sie würden dir alle gute Besserung wünschen.«
»Mich bemitleiden, meinst du wohl. Weil sie denken, der arme Kerl, spätestens Weihnachten liegt er unter der Erde.«
Schwer hängen seine Worte zwischen ihnen in der Luft. Mit angespannter Miene schaltet Bob das Radio wieder ein. Der Moderator klingt so überdreht, als hätte er zwischen den Ansagen ein paar Lines Koks gezogen. Bob leidet sichtlich unter dem hirnlosen Klamauk.
»Entschuldige«, sagt Carol. »Es tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.«
»Ist schon okay.«
»Mach doch das Radio wieder aus.«
»Aber es gefällt mir.«
»Ach komm. Ich sag auch nichts mehr, versprochen.«
»Nein, ein bisschen Musik ist auch mal ganz nett.« Er macht ein gequältes Gesicht, als Britney Spears mit ihrem weichgespülten Geträller über den Äther schwappt. »Immerhin vergeht so die Zeit schneller.«
»Aber wir können Britney doch beide nicht ausstehen.« Carol sucht einen anderen Sender. Sogleich ertönen die getragenen Klänge von Chopins Trauermarsch. »Das muss ja nun auch nicht sein.« Beim nächsten Versuch bekommt sie einen Countrysänger herein, der über seinen sterbenden Freund weint.
Hastig schaltet Bob wieder zurück zu Britney. Der Song ist dermaßen von Tennie-Weltschmerz durchtränkt, dass es einem in den Fingern juckt, der Sängerin den Hintern zu versohlen.
Weiter vorne in der verstopften Straße leuchtet die Ampel höhnisch in hoffnungsfrohem Grün.
Während Britney ihnen weiter das Trommelfell malträtiert, ergeben Carol und Bob sich in ihr Schicksal. Und die Omen werden von Sekunde zu Sekunde verhängnisvoller.
Nach der zähen Anfahrt mit dem Spaßfaktor einer Wurzelkanalbehandlung freut Carol sich darauf, wenigstens die nette Schwester am Empfang wiederzusehen, aber heute hat eine andere Dienst, älter und matronenhafter, mit dem leicht verquollenen Gesicht der heimlichen Trinkerin – das kennt Carol nur allzu gut.
Bobs Facharzt dagegen ist auch diesmal wieder in Hochform. Er begrüßt sie mit einem derart breiten Lächeln, dass Carol regelrecht geblendet ist.
»Guten Morgen!« Er schüttelt Bob mit aufrichtiger Herzlichkeit die Hand. »Und Mrs. Cooper, wie schön, Sie wiederzusehen.«
Doch sobald sie alle Platz genommen haben, knipst er das Strahlemannlächeln regelrecht aus.
»Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie.«
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Wenn Gloria Albert verstehen könnte, hätte sie allmählich die Nase voll davon, ihn von seiner Expedition schwärmen zu hören, von Carols Haus, zum
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