... und dann bist du tot
fortgehen würde. Lally hingegen hatte nie daran gezweifelt, dass sie bis zu ihrem Tod in Neuengland leben würde. Dies war der bedeutendste Unterschied zwischen Joe und Lally Duval. In jeder anderen Beziehung, besonders in denen, die am meisten zählen - in ihrem Fühlen und Denken -, waren sie sich so ähnlich und so eng verbunden, wie Bruder und Schwester nur sein konnten.
Als Joe kurz vor Viertel vor fünf an diesem Montagnachmittag anrief, saß er an seinem Schreibtisch im Logan Square Distrikt in Chicago. Lally war ungefähr neunhundert Meilen entfernt in ihrem Schlafzimmer und bürstete ihr dunkelbraunes, fast taillenlanges Haar, das sie zu einem hübschen Knoten zusammensteckte, der in der Welt des Balletts Pflicht war.
»Na, was machst du gerade, Schwesterherz?«
Lally lächelte, als sie den vertrauten Klang der tiefen, warmen Stimme ihres Bruders hörte. »Das Übliche. Ich habe gerade frische Croissants im Cafe abgeliefert, und jetzt mache ich mich für den Unterricht fertig.« Nijinskij, ihre drei Jahre alte Siamkatze, die neben der Tür stand, betrachtete sie aus freundlichen, schmalen Augen.
»Bist du im Büro?«
»Ja, heute Nachmittag muss ich mich um den Papierkram kümmern.« Joe hielt kurz inne. »Wie geht es dir, Lally?«
»Ausgezeichnet«, erwiderte sie. »Letzte Nacht hat es hier geschneit, aber heute ist es wunderschön. Und wie geht es euch?«
Normalerweise telefonierten Joe und Lally mindestens einmal im Monat miteinander. Lally hätte es glücklich gemacht, jeden Tag mit ihrem Bruder zu sprechen. Doch Joe war Lieutenant bei der Chicagoer Mordkommission, was bedeutete, dass er ein verrücktes, ausgefülltes Leben führte, und Lally wusste, dass sein mitunter langes Schweigen nicht bedeutete, dass er seltener an sie dachte.
»Uns geht es allen gut«, sagte Joe. »Klopf auf Holz.« Er klopfte leise auf seinen Schreibtisch.
»Und wie geht es Jess ?« Ihre Schwägerin war seit kurzem schwanger, und Lally wusste, dass sie und Joe und die reizende Sal alle wie auf einem Pulverfass saßen, weil Jess’ vorangegangene Schwangerschaften mit einer Fehlgeburt endeten.
»So weit, so gut.« Joe war ein gefühlvoller, aber wortkarger Mann.
»Nimmt sie es diesmal leichter?« Lally konnte seine Angst durch die Leitung spüren.
»Ein wenig. Du weißt ja, wie eigenwillig Jess ist, aber ich glaube, sie würde fast alles tun, um das Baby diesmal nicht zu verlieren. Sie sieht sogar ein, dass es besser ist, wenn Sal und ich die Einkäufe machen und wir uns um den Garten kümmern.«
»Es ist bestimmt nicht leicht für sie.«
»Das kann man wohl sagen.«
Lally schaute auf den Wecker und steckte die letzte Nadel in ihren Knoten. Sie sah die geliebten Gesichtszüge ihres Bruders, seine lange, spitze Nase und seine zärtlichen grauen Augen, die ihren sehr ähnelten. Sie sah alles so deutlich vor sich, als würde er ihr gegenübersitzen.
»Was macht die Arbeit?«, fragte sie, als sie nach ihrem geliebten schwarzen Trikot griff und es überstreifte. Sie wusste, dass es eine sinnlose Frage war, denn trotz der Offenheit zwischen ihnen in den meisten Dingen hätten die Belange der Chicagoer Mordkommission in einem Hochsicherheitstresor nicht besser aufbewahrt werden können.
»Immer dasselbe«, sagte Joe leichthin. »Du weißt ja, wie das ist.«
Sie wusste nicht, wie es war, aber vielleicht war sie sogar froh darüber. Im Grunde sorgte sie sich ständig um Joe, und vielleicht war ihre Fantasie schlimmer als die Wirklichkeit, doch irgendwie zweifelte sie daran. Sie hatte die brutale Wirklichkeit, die blutige Realität an dem Tag kennen gelernt, als ihre Eltern wenige Tage nach ihrem neunzehnten Geburtstag bei einem Autounfall vor vier Jahren ums Leben kamen. Da Joe in Chicago lebte, musste Lally sie im Leichenschauhaus in Pittsfield identifizieren. Selbst in diesem schrecklichsten Augenblick ihres Lebens sah sie es als einen Akt der Gnade an, dass sie zusammen starben, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn einer von beiden überlebt und um den anderen getrauert hätte. Doch das hatte Lally weder an dem Tag noch an den Tagen, die folgten, geholfen, um sich mit dem schrecklichen Ende auszusöhnen. Seitdem Joe zur Polizei gegangen war, sorgte sie sich um ihn, und sie ahnte, dass sie es immer tun würde.
»Geht es dir gut, Schwesterherz?«, fragte Joe. »Du hörst dich so abgehetzt an.«
»Ich habe mich nur umgezogen. In zehn Minuten beginnt der Unterricht.«
»Möchtest du mich
Weitere Kostenlose Bücher