Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
siebten Sinn für Problemfälle. Eine hochschwangere Frau in offenbar schlechter seelischer Verfassung war ganz gewiss ein Problem. Ein gewaltiges. Die sprachkundige Fachfrau hielt sich nicht mit den im Luftverkehr üblichen Begrüßungsritualen auf. Sie verschränkte ihre Arme auf dem Bauch und schüttelte den Kopf.
    »Im wievielten Monat?«, fragte sie streng, den vierten Knopf des weißen Herrenhemdes fixierend.
    »Im fünften«, erwiderte Samy. Obwohl Rose viel zu erregt war, um auch nur ein Wort zu sagen, trat er ihr sanft auf den Fuß, um weiterhin ihr Schweigen zu sichern. Den konsternierten, wohl auch feindseligen Blick auf den Leib seines Schützlings hatte Samy absolut richtig gedeutet. »Meine Enkeltochter bekommt Zwillinge«, erklärte er so deutlich wie nötig, so forsch wie möglich und in der großen Hoffnung, dass eine Frau, die Zwillinge erwartete, schon im fünften Monat so aussah wie Schwangere, die nur mit einem Kind beschenkt wurden, im achten oder neunten. Während die unmodisch frisierte Schicksalsgöttin unschlüssig den Ticketblock anstarrte, als suche sie dort Inspiration und Anleitung, versuchte es der ehemalige Tischtennisspieler mit einem kleinen Witz. »Vier Tickets brauchen wir aber erst in vier Monaten, wenn unsere Babys da sind.« »Das stimmt doch hoffentlich alles, was Sie mir da erzählen?«, forschte die gestrenge Wächterin an der Pforte zum Paradies. Noch flammte das Schwert, das sie vor den Bittstellern schwenkte.
    »Können Sie sich vorstellen, dass ein Mann in meiner Situation lügt?«, fragte Samy. Er senkte den Kopf und seufzte tief und dachte an seine verstorbene Frau. Die hatte ihm bei jedem Streit vorgeworfen, er sei ein schamloser Schmierenkomödiant, der die den Frauen angeborene Gutherzigkeit ausnutze.
    Für den Rest seines Lebens diente ihm der Vorfall als unschlagbarer Beweis für die Existenz von Schutzengeln und dass der seinige ein besonders schlauer war, hatte er ihm doch im genau richtigen Moment die Sache mit der Zwillingsgeburt eingegeben. Tatsächlich war die rettende Notlüge Samys Gedächtnis zu verdanken, das im Alter noch so extrem gut war wie in seiner Jugend. Ein halbes Jahr zuvor hatte er im Wartezimmer seines Zahnarztes gelesen, dass schwangere Frauen zwei Monate vor der Geburt nicht mehr fliegen dürften. Zu Recht wähnte er, dass es einem Mann seines Alters bedeutend besser anstand, einen befähigten, allzeit einsatzbereiten Schutzengel zu haben als ein Faible für Frauenzeitschriften.
    Die Gestrenge mit dem Haarknoten nahm sich noch weitere drei Minuten Bedenkzeit. Stirnrunzelnd und schweigend setzte sie die Risiken einer Geburt im Flugzeug gegen die rufschädigende Behauptung der Gazetten, ein alter Mann und seine schwangere Enkelin wären von einer herzlosen Fluggesellschaft gegen deren Willen auf die Eisenbahn gezwungen worden. Abermals starrte Mademoiselle auf Rose’ Bauch. Sie dankte allen Heiligen, die ihr nahe standen, dass sie weder Mann noch Kinder hatte und sich bei der Auswahl ihrer Hunde grundsätzlich für Rüden entschied. Nervös rieb sie ihren rechten Fuß gegen den linken und knirschte mit den Zähnen. Erschrocken erinnerte sie sich ihrer neuen Kronen. Sie verfluchte Rose’ Mutter, weil sie nicht auf ihre Tochter aufgepasst hatte, und verscheuchte mit einer rüden Handbewegung einen kleinen dunkelhäutigen Jungen, der zu ihren Füßen einen Kreisel »Au clair de la lune« brummen ließ. Schließlich entschied sie aber doch, den Bittstellern die Rückkehr in die Heimat per Flugzeug zu gestatten. Völlig unerwartet und gar mit einer gewissen Keckheit sagte sie: »Okay, Ihr Flug wird aber erst in neunzig Minuten aufgerufen.«
    Samy, der geglaubt hatte, er würde die Anspannung keine Minute länger aushalten können, war so nervös, dass er sich nur mit großer Mühe zurückhielt, auch »okay« zu sagen. Er steckte Rose sein Taschentuch zu und segnete Martha, dass sie ihm ein richtiges aus Leinen mitgegeben hatte. Wieder einmal bot ihm das Leben die Gelegenheit zu der Erkenntnis, dass Vorurteile in den meisten Fällen voreilig und genauso oft falsch sind. Kaum hatte die Knotenfrau die beiden Flugtickets in blaue Umschläge gesteckt, stellte sich heraus, dass sie nicht nur befugt war, Schicksal zu entscheiden. Zu ihren Aufgaben gehörte die persönliche Betreuung von Fluggästen, die den Anforderungen des modernen Reisens nicht gewachsen schienen. Nun da sich der Eisberg aus seiner Entscheidungsnot erlöst hatte, taute er auf und

Weitere Kostenlose Bücher