Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
einer Liebe, von Gewissensnot und Heimweh, von Madame Versagne, dem elenden Zimmer, dem aggressiven Kater Louis und dem ständigen Hunger. Samy gab ihr Marthas Hühnersandwich. Sie biss hinein und weinte wieder. »Ich wusste nicht, dass man Heimat schmecken kann«, staunte sie.
    »Nur Heimat kann man schmecken«, wusste Samy. Er wollte Rose in ein Lokal auf der Promenade führen und zusehen, wie sie satt wurde und wieder dem Leben vertrauen lernte, aber sie sagte, sie geniere sich, mit dem dicken Bauch und der klaffenden Jeans unter Fremden zu sein. So saßen sie eng umschlungen auf einer Bank und starrten auf das Meer, der alte Mann und das Mädchen.
    »Du bist genau der Großvater, den ich mir immer gewünscht habe«, sagte Rose. »Als Kind habe ich die anderen immer beneidet, weil sie so viele Großeltern hatten. David und ich hatten nur Granny. Ich habe lange nicht kapiert, warum das so ist.«
    »Eine Generation von uns fehlt«, sagte er.
    »Ich weiß«, sagte Rose, doch sie wusste zu wenig. Der Mord an den Juden war für sie schon Geschichte. Gegenwart war Marthas Hühnersandwich mit Mayonnaise. Und das Leben, das in ihr wuchs.
    Als junger Mann in Offenbach hatte Samy sich immer gewünscht, in einer linden Sommernacht mit einem Mädchen am Ufer des Mains zu sitzen. Und wenn es das Mädchen seiner Träume war, wollte er erst ein Gedicht von Heine rezitieren und es dann küssen. Nun saß er mit der neunzehnjährigen Enkelin seiner großen, seiner einzigen Liebe am Mittelmeer. Es war der falsche Ort und die falsche Zeit, um Heine zu zitieren, denn Samy und Rose hatten keine gemeinsame Muttersprache. Sie sprach nur Englisch, und er träumte noch Deutsch. Ein Kuss in einer Sommernacht aber war immer noch ein Ereignis. In Samys Alter war ein Kuss auf einen Mädchenmund ein Wunder, nein, ein Gottesgeschenk. Er drückte Rose so fest an sich, dass er einen Moment lang glaubte, er würde das Kind in ihrem Leib hören.
    »Morgen«, sagte er, »haben wir ziemlich viel vor. Wenn wir Glück haben, könnten wir sogar schon abends zu Hause sein.«

Die Heimkehr
    London, Juli 1971
    Trotz der zahlreichen Gegenbeweise, die seinen Lebensweg markierten, hatte es sich Samy nie nehmen lassen, auf den glücklichen Ausgang einer unglückseligen Geschichte zu setzen. Auch in Nizza entlohnte ihn das Schicksal für sein Vertrauen. Weder Teufel, Spitzbuben noch Neider trauten sich, den beiden Reisenden auf dem Weg in die Heimat Stolpersteine vor die Füße zu werfen. Aus Notlügen wurden Volltreffer, aus Hoffnungen ein Stück Wirklichkeit, und selbst solche Einfälle, die bar jeder Logik und Vernunft waren, erwiesen sich noch als brauchbar. Unter dem blauen Himmel von Nizza wuchs Samy Bronstein, von dem seine Martha bei jeder Gelegenheit behauptete, man dürfe ihn keine Minute allein lassen, sonst treibe er nur Unfug, über sich selbst hinaus. Endlich, nach einem halben Jahrhundert kam Samy zugute, dass er in seiner Jugend hessischer Tischtennismeister in der Juniorenklasse gewesen war. Er hatte schon damals immer behauptet, Tischtennis wäre nicht allein eine Sache der schnellen Hand und der fixen Beine. Ebenso wichtig wäre ein schneller Kopf. Und den hatte Samy immer noch. Er reagierte auf jedes Stichwort, und er reagierte richtig. Für Rose war er Vater und Großvater und der selbstloseste Ritter, der je ausgezogen war, ein schönes Mädchen aus dem Schlund
    eines gefräßigen Ungeheuers zu befreien. Hätte Rose die Arbeitsgemeinschaft in griechischer Mythologie, zu der sie sich im vorletzten Schuljahr angemeldet hatte, nicht regelmäßig geschwänzt und wäre stattdessen mit Freddy Morton zu den teuren Tanznachmittagen für Fortgeschrittene gegangen, wäre ihr ein sehr treffender Vergleich eingefallen. Samy Bronstein, knapp einhundertundachtund-sechzig Zentimeter groß, war so stark wie Atlas, der die Weltkugel auf seinen Schultern getragen hatte, so mutig wie Achilles im Kampf um Troja und so listig wie Odysseus, der sich auf der Rückreise in die Ehe weder von der Moral noch seinem Gewissen hetzen ließ.
    »Wenn ich je heirate«, sagte Rose zärtlich, »dann muss der Mann genau so sein wie du, Samy.«
    »Ich habe Rheuma im Knie, und nachts bekomme ich Albträume und schrei mich selbst aus dem Schlaf.«
    »Ich auch«, sagte die verwandelte Rose. »Um Albträume zu bekommen, muss man nicht alt sein. Das habe ich in Nizza gelernt.«
    Bei Sonnenaufgang, der an diesem Tag besonders prächtig war und jedem anderen Reisenden den Abschied

Weitere Kostenlose Bücher