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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ein flüchtiges »Merci« ins linke Ohr und verlor auch noch kostbare Zeit mit der Erkenntnis, dass der Mensch meistens nicht dazu kommt, denen zu danken, denen Dank zusteht. Danach allerdings konzentrierte sich Samy ausschließlich auf das Nächstliegende - er musste an seinen Koffer gelangen, ohne dass ihn einer sah oder gar anhielt. Wie zuletzt als Schuljunge, wenn er mit seinen Freunden »Räuber und Gendarmen« spielte, schlich er am Portier vorbei. Der saß in seiner Loge und las Zeitung beim Licht einer grünen Börsenlampe. Auf Zehenspitzen, die Tüte mit den eineinhalb Hühnersandwiches und den Bananen noch immer in der Achselhöhle und dem Koffer in der Hand, der wesentlich schwerer war, als er ihn in Erinnerung hatte, schlich Samuel Bronstein, der bei seinen Freunden als schlauer Fuchs galt und bei seiner Martha als Held, aus dem Hotel. Er hatte nicht nur Hunger. Sein Herz war schwer, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Rose finden sollte.
    Zu seinem Erstaunen war es längst nicht so spät, wie er beim Anblick des lesenden Portiers gedacht hatte. Auf der Promenade des Anglais lachten die Jungen, und die Alten glaubten, sie wären wieder jung. Selbst Babys im Kinderwagen waren noch wach, um Freude zu krähen. Die Palmen raschelten leise. Kleine Hunde kläfften, große träumten von Beute. Aus den Häusern und den offenen Cabrios, in denen alternde Recken und junge Mädchen mit wehenden Haaren saßen, klang Musik. Samy war geblendet von der plötzlichen Lichterflut und verwirrt vom Lärm.
    Niedergeschlagen war er, weil er verwirrt war. Er merkte, dass er schwankte. Das Gefühl, er hätte versagt und Martha im Stich gelassen, würgte ihn. Er fragte Gott, ob solche Gedanken Menschen kamen, die dem Tod nahe waren. Ehe er vom Himmel Antwort erhielt, wurde ihm bewusst, dass er doch noch ein Ziel hatte. Er wollte irgendwo sitzen, aufs Meer schauen und die Sterne sehen; er wollte endlich seine Banane essen. Um diese Gunst brauchte er nicht lange zu bitten. Gerade als Martha sagte: »Du wirst mir noch dankbar sein, mit Bananen kommst du durch den ganzen Tag, wenn es sein muss«, sah er am Ufer die weiße Bank auf den weißen Steinen.
    Er lief so schnell, wie ihn sein Koffer ließ, auf die Bank zu, noch immer benommen, aber doch schon auf dem Weg, sich wieder zu finden und auf das Licht zu setzen, das ihm, dem Optimisten, seit jeher am Ende eines Tunnels geleuchtet hatte. Erleichtert und mit einem Seufzer, der ihm so aufdringlich vorkam wie zuvor die Musik aus den Cabrios, ließ er sich auf die Bank fallen. Wie ein weit Gereister, dem keine Gefahr zu gering erscheint, um nicht mit ihr zu rechnen, klemmte er den Koffer fest zwischen die Beine und machte alle Knöpfe seines Jacketts zu, um die Brieftasche zu schützen. Als er die Banane zu schälen begann, bemerkte er, dass er nicht allein war. Samy war nicht verlegen, nur sehr überrascht. Neben ihm saß eine Gestalt in einem weiten weißen Hemd, das bis zu den Knien reichte.
    »Sorry«, sagte Samy munter, »ich hätte mich nicht einfach hierher setzen dürfen, aber der alte Herr ist ein wenig ermattet.« Zu spät ging ihm auf, dass er Englisch gesprochen und also seinen Witz vertan hatte. »Sorry«, wiederholte er trotzdem.
    Er hörte erst leises Schluchzen, danach lautes Weinen. Danach erklang ein gellender Schrei, wie er nur aus den Kehlen von jungen Mädchen kommt, wenn Freude wie ein Blitz durch ihren Körper rast. Zwei Arme, so warm, so weich, umklammerten seinen Hals. »Samy, mein guter alter Samy, ich wusste, dass du kommen würdest«, wisperte Rose. Sie weinte wieder, als hätte sie nie Freude geschrien, nie gejubelt, und er weinte mit, Tränen der Erschöpfung, Tränen der Dankbarkeit, Tränen der Fassungslosigkeit. »Ich glaube«, sagte er nach einer Weile, »wir müssen zuerst Gott danken.«
    »Kannst du das? Ich meine, weißt du, wie das geht?« »Klar weiß ich, wie das geht. Ich danke Gott jeden Abend, dass er mir deine Großmutter geschickt hat. Bist du eigentlich sehr schwanger, meine Kleine?«
    »Sehr«, sagte Rose. »Manchmal habe ich gedacht, ich würde mein Kind hier auf dieser Bank kriegen. Weißt du, es ist kein Zufall, dass du mich hier gefunden hast. Ich habe jeden Tag hier gesessen und gewartet, dass mir einfällt, was ich tun muss.«
    »Dir ist genau das Richtige eingefallen. Du hast an mich geschrieben. Das war sehr mutig. Und sehr klug.«
    Es war Mitternacht, ehe Rose ihre Geschichte erzählt hatte. Sie berichtete vom Tod

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