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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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nicht alle töten, was soll ich also machen? Einfach warten, bis sie mich umbringen? Bis sie auch mich kreuzigen?
     
    Euchrid betrachtete das Gewehr, drehte es in seinen Händen. Tränen rannen über seine Wangen. Er hatte sich selbst Angst eingejagt.
     
    Oder gibt es eine bessere Lösung? Eine edlere Lösung?
     
    Noch immer das Gewehr in den Händen drehend, senkte er den Kopf und ging hinein. Die Tür schlug hinter ihm zu. Endgültig.
     
    Ich ging die Treppe rauf und öffnete die Vordertür der Hütte. Die Tür knallte hinter mir zu. Irgendwie endgültig.
    Und … und drinnen … und drinnen … wißt ihr, es fällt mir schwer, das zuzugeben, einfach damit rauszurücken, aber ich werd’s tun, ja … in meiner Hütte, vor den Augen meiner Untertanen – O Schande, Schande über meine Feigheit, meine Memmenhaftigkeit – und mich, ihren furchtbaren Herrn! Ja, vor den dunklen Augen meiner Untertanen, meines Publikums, unternahm ich gewisse Schritte, um dem allem ein Ende zu machen. Ja, ein Ende zu machen. Meine himmlische Mission auf Dauer und für alle Zeit zu verschieben. Und mir damit meinen Platz im Paradies zu nehmen, meinen Platz im Königreich Gottes. Und ich hab kaum noch eine Erinnerung daran.
    Ich bin in die Hütte gegangen. Richtig. Daran erinnere ich mich. Das Zuschlagen der Tür. Aber was dann geschehen ist, wurde von einem anderen Teil meiner selbst gelebt, von einem Teil, der sich ausschweigt, denn als nächstes erinnere ich mich, wie ich auf dem Boden knie: das Gewehr ist in den Rachen einer Schweinefalle geklemmt, und die beiden Läufe stecken in meinem Mund. Eine ganze Weile hab ich so dort gekniet und an dem Gewehr entlanggestarrt. Eine straffe Schnur spannte sich von den beiden Abzügen zu der gut einen Meter entfernten Tür, wo sie ordentlich an der Klinke befestigt war. Nehme an, ich hab auf einen Besucher gewartet, der mich töten sollte. Einen Eindringling! Ja! Denn ich war überzeugt, daß sie kommen würden. Ich hatte sie schon hinter der Mauer gehört. Ja. »Also sollen sie kommen«, dachte ich. »Sollen sie kommen. Was für meine Totzeit gut genug ist, ist auch für meine Lebzeit gut genug. Kommt schon«, dachte ich. »Ich warte«, dachte ich.
    Und ich wartete. Wartete. Auf den Knien. Ein. Zwei. Drei Stunden, bis mir der Schädel platzte, die Zähne schmerzten, der Kiefer sich verkrampfte. Und den Tod einsaugend, wartete ich weiter, auf irgendwen.
    Und sie sind gekommen. O ja. Bloß nicht durch die Vordertür.
    Sie – es – sie war einfach da, ganz allmählich, ganz wundersam gab sie sich zu erkennen.
    Als erstes bemerkte ich ein schwaches Flimmern hinter mir, und rechts von mir. So heimlich schlich es sich in mein Bewußtsein, daß ich den genauen Zeitpunkt seines Eintretens nicht angeben konnte. Aber zuerst war das Licht da, das steht fest. Ein silberblauer, unverkennbar überirdischer Glanz. Doch wenn es nicht das Licht war, wenn es das nicht war, dann war es das Leuchten von bewegten Flügeln und der Schwall stinkiger Luft, die plötzlich auffuhr und den Müll auf dem Boden herumwirbelte – Papier, Schnitzel, Mullstreifen, Federn, Bälge. Und wenn es nichts von alle dem war, dann war es die Stimme, ja, die Stimme, die mir die Identität meines jähen, meines schlurfenden, meines außerordentlichen Besuchers verriet.
    »Denke daran, Euchrid, es gibt eine Sünde zum Tode«, ertönte eine Stimme, und behutsam nahm ich den Lauf aus meinem Mund und drehte mich nach ihr um. Konnte es sein? Konnte es sein …
    Mein Engel. Mein lange vermißter Schutzengel. Meine feste leitende Hand. Und o, wie wunderbar, wie ehrfurchtgebietend war ihr Strahlen! Ich stand auf und stellte mich vor sie. Ganz steif geworden, streckte ich mich, breitete die Arme aus, und erblickte meine geflügelte Gotteserscheinung. Seligkeit! Seligkeit!
    »Du bist noch nicht gerufen worden. Bezähme dich, denn die Zeit deiner Berufung ist reif. Es sind verdorbene Früchte zu pflücken. Verrichte Sein Werk gerecht und gefällig, und ebenso wird man dich aufnehmen«, sagte sie säuselnd. Und mir fiel auf, manchmal schien mein Engel in enganliegende dünne Schleier gehüllt, und manchmal trug sie nichts als ihre neckenden Schwingen, die sie beim Sprechen weit aufschlug und mir so die leuchtenden Wonnen ihres Leibes offenbarte. Dann senkte sie ihre goldenen Locken, verfiel in Schweigen und hüllte sich in ihre Flügel wie eine schlafende Fledermaus oder eine blaue Flamme, vermutlich, um irgendeinen göttlichen Rat zu

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