Und die Eselin sah den Engel
war niemand da, keine Menschenseele. Und als ich dann so da unter der Hecke wartete, bin ich wohl ein bißchen eingenickt.
Beth betrat den Memorial Square durch das schmiedeeiserne Tor, öffnete und schloß es hinter sich, als betrete sie einen riesigen Marmorsaal, und mit schier ehrfürchtiger Inbrunst blickte sie in den raucherfüllten Himmel, als wäre dieser eine mythische Decke, die sich über ihr spannte. Während sie dann über den Platz schritt, ertönte nervöses Vogelgezwitscher, doch in Beths Ohren klang dies eher wie ein Gesang, der sie bekräftigte, sie in ihrem Glauben bestärkte, daß dieser Tag, dieser und kein anderer, ihr Aufschluß bringen würde, und daß die tausend verwirrenden Fragen, die ER allein auflösen konnte, eine Antwort finden würden. Alles, was Beth umgab – die Sonne, die Blumen, die Bäume, der Wind, die Vögel –, schien ihre Überzeugung zu festigen, daß ER an diesem Tag KOMMEN WÜRDE – um ihr die Augen zu öffnen, ja, um sie mit Wissen zu erfüllen.
Wie lange schon war Beth endlos wirren Erklärungen ihrer » göttlichen Erwartung « , ihrer » Vorbereitung « , ihrer » überirdischen Bestimmung « ausgesetzt gewesen? Wie oft schon hatte sie die Frauen von den » Pfändern der Jungfernschaft « oder dem » Geruch der Heiligkeit « reden hören? – Worte, die monströs in ihren Gedanken wucherten, bestialische Formen annahmen und ihren Schlaf heimsuchten.
Jetzt saß sie in einem strahlend weißen Baumwollkittel, einen Kranz blasser Veilchen durch die Locken gewunden, auf den Stufen des Denkmals; der große Marmorengel schwebte gegürtet und männlich wie ein Gedanke über ihr, und winzig wirkte sie im Schatten ihrer grandiosen Ahnungen. Sie drückte ein primitives, aus zwei zerbrochenen Latten gefertigtes Kreuz an ihre Brust und murmelte ein Lied vor sich hin.
Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und die Bürger hatten im Rathaus bereits begonnen, das Brot zu brechen; Beth wußte, die Zeit ihres Alleinseins auf dem Platz war begrenzt, und bald würden die Leute, nachdem sie sich sattgegessen hatten, aus dem Saal auf den Platz strömen, um dort die abendlichen Festlichkeiten fortzusetzen.
Doch Beth blieb geduldig auf den Stufen sitzen und wartete, wunschlos glücklich mit dem Glauben, daß Er kommen werde.
Und auf der anderen Seite des Platzes, neben dem Rathaus, unter der Hecke, lag Euchrid mit verdrehten Augen auf dem Rücken. Der Kragen seiner Marinejacke war mit Speichelfäden überzogen, und mit rotem Staub bedeckt hing ihm die Zunge aus dem Mund.
Ich erwachte vom Gesang eines Kindes und rappelte mich auf. Ich fühlte mich seltsam, als ich so dort stand. Ich fühlte mich – ich fühlte mich stark. Ja. Ich fühlte mich sehr – sehr motiviert. Motiviert . Ja! Ich fühlte mich verdammt stark und sehr motiviert. Bereit, loszugehen. Bereit, aufzubrechen. Bereit, zu töten. Ja. Bereit, zu töten.
Und ich zog meine Stiefel aus und schob sie unter die Hecke.
»Ich weiß von einem verträumten Fluß, Den ich bald befahren muß.«
Beth verstummte. Sie preßte das hölzerne Kreuz an die Brust, schloß die Augen und saß einfach so auf den Stufen des Denkmals, den Kopf wie lauschend zur Seite geneigt.
Eine volle Minute verging.
Und dann holte sie kurz Luft, und zeigte ein zitterndes Lächeln.
Barfuß ging ich über den Platz zum Denkmal. Beth war anscheinend eingeschlafen, und als ich auf der anderen Seite des großen Marmorengels die vier steinernen Stufen erstieg und die Sichel aus dem Gürtel zog, gratulierte ich mir zu meinem Glück. Ich schlich um die Statue herum, bis ich hinter ihr stand, hoch über ihr.
Ich hob die Sichel hoch in die Luft und spannte meine Faust um den Griff.
Endlich schlug Beth die grünen Augen auf, und auch darin war das Lächeln, zugleich aber noch etwas anderes, etwas, das verwandt war mit erwartungsvollem, ehrfürchtigem Staunen. Die dünnen Finger um das grobe kleine Kreuz geklammert, drehte sie sich um, bog sich nach hinten, und in diesem Augenblick wallte eine Woge violetten Rauchs von den Feldern heran und verschlang das Bild aus Fleisch und Stein.
Beth blickte auf.
Sie sah Euchrid. Sie sah den aus Marmor gemeißelten Engel. Sie gewahrte, wie unheimlich der eine Haltung, Pose und Absicht des anderen widerspiegelte. Sie sah den einen, geflügelt, knochenbleich und voller Anmut, und sie sah seine leibhaftige Verkörperung, flügellos, lumpig und schmutzstarrend. Und sie sah seine Wunden, sein langes Haar,
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