Und die Ratte lacht - Roman
Überarbeitung und Vernetzung erhielten, sind unwiderruflich in der zweiten Sintflut der vordigitalen Welt untergegangen. Die Archäologie, wie immer sie auch beschaffen ist, hat ausgespielt. Nur die Gegenwart existiert. Fast bei jedem Beamen hast du mir erklärt, die größte Gefahr für die Entwicklung der Menschheit liege in der romantischen Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprung, nach den Wurzeln, nach all dem, was uns ins Verderben geführt hat. Von dieser Sehnsucht müssten wir uns um jeden Preis befreien, denn wenn wir uns von der Vergangenheit beherrschen ließen, würden wir all diese Übel wiedererwecken: Brutalität, Grausamkeit, Angst und Wut – alles, was früher als Geschichte heilig gehalten wurde.
Sofort nach dem ersten öffentlichen Beamen, bei dem du dein Programm Anthropologie der Zukunft vorgestellt hast, hat mein Implant-Chip ketzerische Überlegungen produziert. Ich dachte, ohne die Perspektive, die sich auf die Vergangenheit stützt, wird die Menschheit in einer endlosen Schleife der Schrecken gefangen sein, und jede Generation wird wieder in einer furchteinflößenden Leere versinken, ohne aus den Erfahrungen etwas gelernt zu haben. Wenn ich damals doch nur mutig genug gewesen wäre, das auszusprechen …
Doch trotz meiner ketzerischen Überlegungen habe ich nie an deiner Autorität gezweifelt. Ich verkündete, ich würde meine Forschung zu den Akten legen, doch insgeheim, anfänglich sogar ohne es mir selbst einzugestehen, sammelte ich weiterhin Informationen. Das Mädchen und die Ratte ließ mich nicht in Ruhe. Es gärte in mir und verlangte nach Anhaltspunkten, um sich daran festzuhalten. Als du erkanntest, dass ich noch immer an diesem »trivialen Hobby« festhielt, wolltest du mich überzeugen, dass alle Fakten, die man untersuchen und verifizieren könne, bereits gesammelt seien, deshalb sei meine Forschung für die gebeamte Gesellschaft ohne Bedeutung. Später versuchtest du mir zu erklären, dass die Wurzeln der Geschichte, selbst wenn es mir gelänge, sie herauszufinden, banal seien, es sei ausgeschlossen, dass sie einen besonderen Wert für die menschliche Einsicht in die Zukunft habe. Ich habe deine Arbeit zur Brutalität in den Computerspielen des späten zwanzigsten Jahrhunderts nicht vergessen, von der du dich später, im Verlauf deiner wissenschaftlichen Karriere, distanziert hast. Vielleicht leugnest du ja deshalb die Bedeutung von Das Mädchen und die Ratte und bezeichnest sie als urtümliche Angst vor dem Licht – ein letzter Versucht, der Dunkelheit Platz zu machen, bevor sie endgültig verschwand.
Was ist Angst, Stasch? Mein genetischer Chip sagt »repariert«.
Dem Mädchenloch
geht die Haut aus,
es ist nicht
vorbei.
Ich habe das Gefühl, als würde ich dich stillen – ein selten gewordener Brauch, der nur noch von wenigen abgelegenen Stämmen praktiziert wird.
Du hast dich noch nicht ergeben, aber deine Widerstandsströme werden schwächer.
Ich untergrabe nicht die Autorität des anthropologischen Instituts, Stasch. Im Gegenteil, ich respektiere die Pioniere, die mir den Weg geebnet haben. Ich sende deinem Traumchip die Forschungsergebnisse von Professor Reiner Marcellus Schwarz, der zu beweisen versuchte, dass Das Mädchen und die Ratte keine Figuren des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind. Er betonte die heidnischen und christlichen Motive, die in der Legende enthalten sind, und skizzierte den Weg, auf dem es ihr vermutlich gelang zu überleben, seit ihrer ersten Entdeckung als wahres Ereignis, das sich in den letzten Tagen des römischen Imperiums zugetragen hat, bis zu ihrer Aufnahme im digitalen Netz. Im Gegensatz dazu möchte ich dir die These meiner Supervisorin, Professor Emuna Shanti, vortragen. Ihrer Meinung nach wurde die Urfassung in Gujerati geschrieben und enthält Spuren des großen Erdbebens, das sich 2001 in Gujarat ereignete. Professor Shanti bezieht sich unter anderem auf die breite wissenschaftliche Literatur, die, nicht besonders erfolgreich, versuchte, Das Mädchen und die Ratte mit dem Tempel der Ratten – dem Karni-Mata-Tempel in Deshnok in Rajasthan – in Verbindung zu bringen. In diesem Tempel, der noch immer existiert, obwohl er seit über siebzig Jahren nicht mehr für Gottesdienste benutzt wird, lebten in vergangenen Zeiten Tausende von Ratten, die Tag für Tag die Opfer der Gläubigen und der Priester empfingen. Verschiedene Mythen, die sich um den Tempel ranken, lassen eine klare Verbindung mit einer weiblichen,
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