Und Freunde werden wir doch
gegen das Inkareich im Norden abgegrenzt, und sie widerstanden auch erstaunlich lange den Konquistadoren, den spanischen Eroberern. Mutig schlugen sie die Eindringlinge mehrmals in die Flucht. Doch den Gewehrläufen, der Gier nach Gold und Macht waren sie nicht gewachsen. Immerhin erreichten sie, nach Jahren des Blutvergießens, daß die Spanier sich aus ihrem Gebiet zurückzogen, das war für sie ein ungeheurer Erfolg!«
Frau Gütlein unterbricht sich nun selbst, da sie merkt, wie sich die Bibliothek langsam zu füllen beginnt: »Sandra, da hast du viele spannende Entdeckungen vor dir. Aber jetzt willst du ja erst einmal Spanisch lernen.«
Erleichtert stimmt Sandra ihr zu: »Ja, genau.«
Frau Gütlein lächelt Sandra an: »Aber du interessierst dich wohl mehr für Lateinamerika, genauer gesagt für Chile?«
Sandra nickt zustimmend, und Frau Gütlein strahlt: »Dann mußt du Pablo Neruda lesen, den chilenischen Nobelpreisträger! Hier sind seine Lebenserinnerungen: Ich bekenne, ich habe gelebt und auch seine letzten Gedichte - auf deutsch und spanisch. Großartig, wirklich großartig! Eigentlich wollte ich dir noch dieses Buch über Lateinamerika mitgeben, ein politischer Wegweiser, aber ich glaube, das reicht fürs erste.“
»Ich glaube auch!« Sandra nimmt den Stoß Bücher unter den Arm und folgt Frau Gütlein, damit die Bücher in den Ausleihkarten eingetragen werden können.
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch begrüßt Frau Gütlein einen Mann: »Ah, Herr Ramirez! Frau Müller hat gleich Schluß.«
»Ja, danke«, antwortet dieser Herr Ramirez, und da kommt auch schon Frau Müller, die Bibliotheksgehilfin. Sie ist blond, hat rotlackierte Fingernägel und schwankt ein wenig auf ihren hohen Absätzen.
Frau Müller begrüßt den Mann wie einen alten Bekannten, nickt zu Frau Gütlein herüber und geht mit dem Fremden in Richtung Ausgang.
Sandra kennt Frau Müller genauso lange wie Frau Gütlein, und eigentlich mag sie sie, trotz ihrer etwas schrillen Art. Aber dem Mann, mit dem Frau Müller jetzt die Bibliothek verläßt, dem ist sie hier noch nicht begegnet. »Herr Ramirez«, hat Frau Gütlein gesagt. Ob das etwa Ronnis Vater ist?
In Sandras Kopf jagen sich die Gedanken: Wenn das der Mann von Marie ist - das wäre ja gemein! Marie geht putzen, und der Mann treibt sich mit anderen Frauen herum. Fiesling, widerlicher!
Ob Ronni das weiß? Der hat wirklich nichts zu lachen, der Arme. Langsam begreife ich, warum Ronni so abweisend ist. Ich versteh ihn und bin ihm nicht böse. »Frau Gütlein, dieser Herr Ramirez, also ich meine, Frau Müller...« Die Worte verheddern sich in Sandras Mund, sie stockt. Eigentlich geht sie das ja gar nichts an.
Aber Frau Gütlein antwortet Sandra in aller Offenheit: »Herr Ramirez ist Asylant und war lange sehr einsam hier, da hat sich Frau Müller sehr nett um ihn gekümmert. Er holt sie jeden Donnerstag ab.«
Sandra antwortet nur mit einem »Mhm«. Sie bedankt sich schnell für die Beratung: »Ihre Tips sind prima! Ich bin schon sehr neugierig!«
Als Sandra die Bücherei verläßt, hört sie Frau Gütlein Selbstgespräche führen: »Wo ist nur Blasco Ibáñez geblieben?«
9
Ronni hängt den Hörer ein. Er stößt die Tür des Telefonhäuschens auf und versetzt dem gelben Metallrahmen einen Tritt, daß die Scheiben wackeln. Eine Polizeistreife fährt langsam vorbei. Die Beamten haben das Seitenfenster heruntergekurbelt und beobachten Ronni. Der bemerkt das Auto gar nicht, er schießt eine alte Coladose wie einen Fußball den Gehweg entlang. Die Dose saust scheppernd über das Pflaster, bis sie endlich von einem Laternenfuß gebrernst wird. Ruhe tritt wieder ein.
Ronni geht weiter. Sein Blick ist auf die grauen Steinplatten des Gehwegs geheftet, als gäbe es dort sonstwas zu sehen. Er führt Selbstgespräche wie ein Alter und stößt prompt mit einer dicken Frau zusammen. Doch diese unfreiwillige Umarmung wird ihm erst richtig bewußt, als die Frau ihn lauthals mit »Depp« beschimpft.
Wer Ronni so beobachtet, der muß ihn für einen unfreundlichen, aggressiven Jungen halten. Äußerlich deutet nichts darauf hin, daß ihm zum Heulen zumute ist.
Ronni hat das Gefühl, daß bei ihm alles schiefläuft. Da kann Patricio noch so sehr beschwichtigen: »Ronni, nimm es positiv!« Das muß gerade der sagen, mit seinem Heimweh! Außerdem geht Patricio anscheinend blind durch die Welt. Findet er die Leute hier wirklich okay?
»Asylantenschmuse« hat Uschi die Sandra genannt und
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