Und Freunde werden wir doch
dabei ihre Zähne gebleckt. So eine Gemeinheit! Die wird schon noch sehen, was ein Asylant ist! Ronnis Faust krampft sich zusammen, er rennt die Implerstraße entlang, setzt sich auf die Bank an der Bushaltestelle, steht jedoch gleich wieder auf und biegt in die Lindenschmitstraße ein. Das Telefonat hat ihm nun noch den Rest gegeben. Sandra wollte er sprechen, mit ihr einfach mal quatschen am Telefon, da geht es leichter. Schließlich ist es das natürlichste von der Welt, daß Schulfreunde sich nachmittags anrufen, das tun alle. Und wenn Sandra ihm sogar die Hausaufgaben bringt, dann kann er doch wohl bei ihr mal anrufen. Außerdem hat sich Sandra um Felipe gekümmert. Das war wirklich nett.
Ronni war, nachdem er sich diese Argumente tausendmal eingehämmert hatte, tausendmal versucht hatte, sich selbst zu überzeugen, schließlich zur Telefonzelle gegangen. Als er im Telefonbuch blätterte, bekam er Herzstiche. Er hatte ungeheure Angst, kein einziges Wort herauszubringen. Aber er schaffte es und wählte Sandras Nummer. Doch alle Überwindung war umsonst - wie immer.
Ronni bleibt vor dem Schaufenster von »Radio Rahm« stehen. Er sieht in die Auslagen, aber nur, um überhaupt etwas zu tun. Radios, Kassettenrecorder und CD-Player interessieren ihn im Augenblick kein bißchen. Bei »Radio Rahm« prunkt ein riesiger Farbfernseher im Schaufenster, und meistens läuft er auch. Nena singt, Ronni sieht, wie sie ihren Mund bewegt, aber er kann sie nicht hören. Durch die Schaufensterscheibe dringt kein Ton nach draußen.
Wie abgetrennt hinter einer Scheibe, so fühlt sich Ronni nicht nur jetzt: ein Ausgeschlossener, den die fröhlichen Stimmen der anderen nicht erreichen. Nur manchmal, wenn die Wut wächst, wenn sie stärker wird als die Stummheit, dann spürt er, daß er überhaupt lebt.
Ronni reißt sich los. Die Sängerin, die ihren roten
Mund aufreißt wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, stößt ihn ab, und dennoch hat er sie die ganze Zeit angestarrt.
Er läuft weiter, planlos, aber da ist nichts, was ihn ablenken könnte von seiner inneren Zerrissenheit. Die grauen Häuserwände ragen in den bedeckten Himmel, in bedrückender Ruhe liegt die Straße da.
Wie aus purer Gemeinheit taucht vor Ronni ein gelbes Telefonhäuschen auf. Aber er hat kein Kleingeld mehr, und noch einmal anzurufen, das käme sowieso nicht in Frage. Sandra hat er sprechen wollen und statt dessen ein Verhör ihrer Mutter über sich ergehen lassen müssen: »Meine Tochter ist nicht zu Hause. Was willst du? Wie heißt du? Bist du Türke?«
Wie bei der Geheimpolizei hat sie ihn vernommen und in einer Minute alles kaputtgemacht. Es wäre völlig zwecklos gewesen zu fragen, wann Sandra wieder nach Hause kommt. Nur eine neue Lawine von Nachfragen hätte er damit losgetreten. Aber er wollte nicht sagen, warum er anrief, auch nicht, wer da anrief, und darum verabschiedete er sich ganz schnell: »Ich versuche es ein anderes Mal.«
Aber die Lust am Telefonieren ist ihm gründlich vergangen. Das Telefon ist sowieso eine merkwürdige Einrichtung. Es hängt so am Augenblick. Hätte er nur fünf Minuten später angerufen, vielleicht säße er jetzt mit Sandra schon bei Alberto. Könnte sein, daß Sandra gerade zur Tür hereinkam, als ihre Mutter das Gespräch beendete. Vielleicht ist Sandra noch gerannt, um das Telefonat entgegenzunehmen, aber ihre Mutter legte einfach den Hörer auf. Vielleicht hat sie zwei Stunden auf einen Anruf gewartet, schließlich ist sie gegangen, und genau in diesem Augenblick wählte er ihre Nummer.
Ronni steht vor Albertos Café. Wenn er ziellos durch die Straßen streift, dann landet er meist irgendwann bei Alberto. Er öffnet die Tür, geht mit der größten Selbstverständlichkeit hinter die Theke und von dort in Albertos Küche. Als einer von wenigen genießt Ronni das Privileg, jederzeit Albertos private Räume betreten zu dürfen. Er weiß diese Bevorzugung zu schätzen und hat auch schon einige Male davon Gebrauch gemacht. Ronni läßt sich auf die große alte Plüschcouch fallen und ruft Alberto mit gespieler Lässigkeit zu: »Hallo, Maestro, wie geht’s?«
Doch Alberto läßt sich nicht täuschen. »Schon gut, Ronni mio«, ruft er zurück.
Das Café ist voll. Alberto geht geschäftig hinter der Theke hin und her, er hat viel zu tun. Trotzdem versäumt er es nicht, Ronni ein großes Stück Zuppa Romana in die Küche zu bringen und ihm »buono appetito« zu wünschen.
Ronni stopft den Kuchen in sich hinein.
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