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Und Freunde werden wir doch

Und Freunde werden wir doch

Titel: Und Freunde werden wir doch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Jörg
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oft spricht, nicht, Chile ist für ihn weit weg, aber mit Opas Briefen steigt immer ein seltsames Gefühl, die Erinnerung an eine warme Geborgenheit, an so etwas wie Glück, in ihm auf. Ob das an Chile liegt oder an Opa oder an der Kindheit, die in Chile zu Ende ging, als Ronni noch glaubte, es werde alles wieder gut werden? Er weiß es selbst nicht, und er macht sich darüber auch keine Gedanken. Jetzt möchte er hören, wie es seinem Kater Pablo geht, den Opa übernommen hat, und was Pablo wieder alles angestellt hat. Doch Patricio öffnet zuerst den Brief von Tante Rosalia, Maries Schwester. Sie bittet um verschiedene Medikamente. Die medizinische Versorgung in Chile sei schlecht, schreibt sie. Ihr Sohn habe eine Bronchitis gehabt, aber sie habe ihm nur Tee und Saft geben können. Auch sonst fehlten viele Dinge. Sie habe eine Lesung von Antonio Skarmeta besucht, der sei ja auch lange in Deutschland gewesen. Ob Ronni sich noch an den kleinen Alfonso aus dem Kindergarten erinnern könne, der sei jetzt schon ein Pianist, ein Wunderkind, sie habe ihn vor einiger Zeit in einem Konzert gehört. Dann fragt sie, wie immer, nach jedem einzelnen, wie es geht und ob sie auch Freunde gefunden hätten. Tante Rosalia endet mit einigen weiteren Wünschen - sie braucht unbedingt bestimmte Strümpfe - und vielen, vielen Grüßen.
    »Was will die denn mit gemusterten Strümpfen?« Felipe lacht, während Marie leise seufzt. Daß man hier zwar vergleichsweise viel verdient, aber bei einer fünfköpfigen Familie kaum Geld übrigbleibt, kann ihre Schwester in Chile natürlich nicht ahnen. Aber die Medikamente will Marie auf jeden Fall schicken. Das muß einfach irgendwie möglich gemacht werden.
    Patricio hat das Schreiben wieder zusammengefaltet und nimmt nun, ganz bedächtig, den zweiten Brief, den von Opa, zur Hand. Die Suppe brodelt auf dem Herd, ansonsten herrscht jetzt völlige Stille in der Küche, alle Blicke konzentrieren sich auf den Umschlag mit Opas schwerfälliger großer Schrift. Opa wohnt in einem kleinen Dorf, nördlich von Vina del Mar. Er lebt auf dem schmalen fruchtbaren Streifen zwischen den Kordilleren und dem Pazifik. Wendet er sich von der Tür seines Häuschens nach links, sieht er hinaus auf das Meer, dreht er sich nach rechts, dann wandern seine Augen hinauf auf den Gipfel des gebieterischen Aconcagua.
    Opa hat sein Leben zwischen dem launischen Meerestreiben und diesen himmelsgleichen Berghängen verbracht, und nichts, aber auch gar nichts in der Welt, würde ihn bewegen können, seine Heimat zu verlassen. Seine Heimat, das ist der 4000 Kilometer lange und etwa 200 Kilometer breite Streifen zwischen dem Pazifik und den Anden, der Chile heißt.
    Als junger Mann hat Opa alle Regionen seines Landes durchstreift. In Antofagasta arbeitete er im Kupferbergbau, in Concepcion versuchte er sein Glück als Schneider, um schließlich in Valdivia Hirte zu werden. Dort lernte er seine Frau, die Tochter eines Mapucho-Indianers, kennen. Er hütete die Lamas, und Oma verarbeitete die Wolle, sie färbte, spann und strickte. Als das erste der fünf Kinder zur Welt kam, zogen Oma und Opa in die Nähe von Vina del Mar, Opa kehrte in den Bergbau zurück.
    Nach Omas Tod blieb Opa in dem kleinen windschiefen Häuschen, in dem er all die Jahre zusammen mit seiner Frau verbracht hatte. Er besuchte seine Kinder gerne, aber er kehrte immer wieder heim in sein domicilio.
    Opa ist auch nach sechsundsiebzig Lebensjahren nicht müde geworden, die Natur, in deren Mitte er ein hartes Leben führte, mit staunenden Augen zu betrachten. Und so beschreibt Opa in jedem seiner Briefe nur das, was sich vor seinen Augen abspielt. Die Enkelkinder sollen trotz ihrer jetzt schon fast vierjährigen Abwesenheit noch die weißen Wolken kennen, die sich bemühen, die Berge einzuhüllen, und vom Strandgut wissen, das ein großer Sturm an Land gespült hat. Wer einen Brief von Opa gelesen hat, der braucht nur die Augen zu schließen und ist wieder zu Hause in Chile.
    Weil Opas Briefe so schön sind, fängt meistens während des Lesens einer zu weinen an. Alle beherrschen sich, so lange es geht, aber irgendwann geht es eben nicht mehr. Dann beginnt Marie zu schniefen, oder Ronni schluchzt los und weiß selbst nicht, warum. Nur Felipe bleibt so, wie er immer ist, munter und fröhlich.
    Opa schreibt:

    Meine Lieben!
    Hättet Ihr den dampfenden Nebel heute morgen gesehen, wie er in kurzer Zeit aus allen Menschen und Tieren Blinde machte, Ihr hättet Freude beim

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